Von Onlife und Inforgs

Luciano Floridi zeigt in „Die vierte Revolution“ wie die Infosphäre unser Leben verändert.

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass das World Wide Web unser Leben wie wir es kannten maßgeblich und unwiederbringlich verändert hat, stellt heutzutage keine großartige Neuigkeit mehr dar. Schon 1995 ließ Kathryn Bigelow in ihrem Science Fiction-Thriller Strange Days die Grenze zwischen virtueller und tatsächlicher Realität verschwimmen und stellte die damals noch visionäre Frage nach dem Einfluss der digitalen Existenz auf unsere Beziehungen und Gefühle. Seit der Jahrtausendwende ist diese Problematik erwartungsgemäß um einiges virulenter geworden. Neben lautstarken Debatten zu Schlagworten wie digitaler Demenz, Cyber-Kriminalität und Internet Mobbing lässt sich dies auch in der Kultursphäre erkennen. Filme wie Spike Jonze’s Her, in dem Joaquine Phoenix sich in eine künstliche Intelligenz in Form seines Smart-Phone Betriebssystems verliebt, und Ex Machina des Briten Alex Garland, der eine KI nicht nur den Turing Test bestehen lässt, sondern auch die Frage erörtert, ob diese neben Intelligenz auch Emotionen aufweisen kann, zeigen, dass die Digitalisierung wahrlich einer Revolution gleichkommt. Es sind dementsprechend weniger die Aufreger-Themen rund um die Infosphäre, die uns bewegen, haben wir doch längst zum Großteil akzeptiert, dass das Internet gekommen ist, um zu bleiben und sich mit ihm Annahmen darüber, wie wir lernen, leben und lieben gewaltig verändert haben. Viel eher sind es die grundsätzlichen Fragestellungen, die den Internetnutzer umtreiben: Welcher Teil meiner Identität spielt sich im Netz ab und was hat er mit meinem Selbst zu tun? Was bedeutet es für unser soziales Miteinander und auch unser Selbstbild, wenn unser Leben sich immer mehr online abspielt? Und welche Rolle spielt das klassische Lernen, wenn Daten immer und überall und darüber hinaus für alle Zeit abrufbar sind?

Luciani Floridi ist ein italienischer Philosoph, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Philosophie der Information und die Informationsethik zählen. Seit 2008 hat er den Forschungslehrstuhl für Informationsphilosophie der Universität von Herfordshire sowie den UNESCO-Lehrstuhl für Informationsethik und Computerethik inne. Er ist außerdem Fellow am St Cross College der University of Oxford. Floridi liefert in seinem jüngsten Werk Die vierte Revolution den philosophischen Überbau für all jene Themen, die schon lange durch den Internetdiskurs wabern, denen es in der Vergangenheit aber bisweilen an Substanz gemangelt hat. Facebook hat massiv verändert, wie wir über unsere Identität nachdenken? – Geschenkt. Aber was bedeutet das jenseits der Feststellung, dass es heute wichtiger ist als noch vor zehn Jahren, wie andere uns online sehen? Wikipedia hat das Wissen demokratisiert? Das mag sein, aber welche Folgen hat das für unser Verständnis von Bildung? Twitter macht den Journalismus obsolet? Schon möglich, aber welche Folgen hat das für die Autorisierung von Informationen? Immer wieder haben wir in den vergangenen Jahren erlebt, dass die Bedeutung vieler Fragestellungen, die die Digitalisierung aufwirft, lange verkannt, verdrängt oder heruntergespielt wird. Floridi will mit seinem Buch eine Grundlage dafür liefern, wie in Zukunft über das Internet nachgedacht werden kann und die auch helfen könnte, grundlegende Fragen wie etwa die nach dem geistigen Eigentum oder der Privatsphäre im digitalen Zeitalter zu beantworten. Dieses Ziel verfolgt er in weiten Teilen ohne dem Alarmismus der Internetskeptiker auf der einen Seite und dem Überschwang der Cyberenthusiasten auf der anderen Seite zu verfallen. Seine Analyse ist weitestgehend sachlich und überlegt und der Überzeugung geschuldet, dass wir mitten in einer Revolution stecken, die die Vorzeichen unseres Miteinanders unumkehrbar verändert. Schließlich führen wir mit drei WLAN-fähigen Geräten pro Einwohner längst ein ‚Onlife‘ und agieren nunmehr als ‚Inforgs‘ an den Schnittstellen neuartiger Medien (dies nur zwei der überaus kreativen Neologismen, die Floridi zur Beschreibung der digitalen Existenz einführt). Dabei zwischen analog und digital, zwischen real und virtuell unterscheiden zu wollen stellt für Floridi einen Anachronismus dar, einen verzweifelten Versuch mit den Konzepten von gestern die Realitäten von heute erfassen zu wollen. Darin ist er nicht nur konsequent, sondern auch überzeugend und zeigt in vielerlei Hinsicht auf, wo der Diskurs den Realitäten nach wie vor hinterherhinkt und wie die zahlreichen Möglichkeiten der weltweiten Vernetzung diese Kluft noch vergrößern werden, wenn nicht bald eine drastische Neubewertung oder zumindest Erweiterung grundlegender Konzepte wie beispielsweise Privatsphäre, Identität und Intelligenz erfolgt.

Floridi hätte diese Aspekte mit seinem philosophischen Fachwissen noch wesentlich stärker machen und theoretisch fundierter untermauern können. Leider tut er dies nur anfangs und auch nur ansatzweise, um sich in der zweiten Hälfte seines Buches dann doch mit der Aufzählung der bahnbrechenden Änderungen, die die Digitalisierung uns bereitet, zu begnügen. Man kann nur hoffen, dass das einer Verlagsentscheidung zwecks besserer Vermarktbarkeit geschuldet ist und nicht der Tatsache, dass einer der führenden Theoretiker der Information und des Internets selbst noch nicht wirklich Grundlegendes zum digitalen Menschen- und Gesellschaftsbild zu sagen hat. Nichtsdestoweniger bleibt Die vierte Revolution ein lesenswertes Buch für Leser, die Begriffe wie ‚Big Data‘, ‚Infosphäre‘ und ‚Konnektivität‘ zwar durchaus kennen, sich aber tiefer mit den Weichenstellungen, die das Netz an unserer Existenz vornimmt, befassen möchten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Luciano Floridi: Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert.
Übersetzt aus dem Englischen von Axel Walter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
318 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586792

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