Von Töchtern und Müttern

Monica Byrne verlegt in „Die Brücke“ ein mörderisches Beziehungs-Chaos in eine dystopische Zukunft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Monica Byrnes Roman Die Brücke bietet dem Publikum gleich eingangs eine für die bessere Science-Fiction-Literatur typische Leseerfahrung: Man versteht zunächst einmal kein Wort. Dabei ist die Handlung keineswegs auf fernen, fremden Alienwelten angesiedelt, ja nicht einmal in allzu ferner Zukunft. Sie spielt hier auf der Erde und man schreibt das Jahr 2068. Einige von uns werden die Handlungszeit also zweifellos noch erleben. Auch in Indien oder Afrika, dort also, wo sich die beiden Protagonistinnen auf ihre jeweilige Reise begeben, werden manche der Lesenden schon gewesen sein. Vielleicht sogar schon auf dem Arabischen Meer. Nicht aber auf dem Trail, der sich von Küste zu Küste zieht und vom indischen Subkontinent bis hin zum Horn von Afrika reicht. Denn der ist noch gar nicht gebaut.

Auch manch anderen der zahlreichen technischen Segnungen des Handlungsjahres können wir uns bis auf Weiteres nur geduldig entgegensehnen. Dem Aadhaar etwa, einem implantierten Chip, der den Standort eines jeden ortet und ein Identitätsprofil seiner Trägerin oder seines Trägers in der Cloud speichert. Es umschwebt den Kopf eines jeden Menschen und kann von allen angeschaut werden, die sich dafür interessieren. Immerhin aber lässt sich diese Funktion des Aadhaar abschalten. Es sind nicht nur solche technischen Errungenschaften, die sich bereits heute abzeichnen, auch der Klimawandel macht sich längst schon bemerkbar. Im Handlungsjahr hat die Polkappenschmelze dafür gesorgt, dass manche Küstenregion von den Wellen verschlungen wurde. Doch selbstverständlich lässt sich die menschliche Perfektibilität von derlei Unbilden nicht aufhalten. So sind nicht nur Geschlechtsumwandlungen bereits seit langer Zeit nichts Besonderes mehr. Modebewusste Menschen können nun mittels „Genbehandlungen“ sogar die eigene „Rassenzugehörigkeit“ ganz nach Gusto wählen.

Das anfängliche Unverständnis von uns Lesenden liegt aber weniger an dem im Grunde gar nicht so futuristisch-fremdartigen Setting, sondern – wie positiv zu vermerken ist – zumindest ebenso sehr an Meena und ihrer Erzählweise. Sie ist eine der beiden Protagonistinnen, die abwechselnd ihre jeweilige Geschichte in der ersten Person Singular erzählen. Jede von ihnen wurde von der Autorin mit einer eigenen – auch dem Alter entsprechenden – Persönlichkeit ausgestattet, die sich in ihrer jeweiligen Erzählweise niederschlägt.

Die 28-jährige, nicht immer ganz zuverlässige Ich-Erzählerin Meena absolviert ohne größere Anstrengung ein Studium in den Fächern „Nano und Indische Literatur“ und ist von angenehmer Selbstironie. Sexuell ist sie ebenso (pro-)aktiv wie promiscue: „Ob Frau, Mann oder Trans“ ist ihr „egal“. Kein Wunder also, dass sie „berüchtigt“ ist für ihre „Bettgeschichten“, von denen sie die eine oder andere auf ihrer ozeanischen Reise von Indien ans Horn von Afrika erlebt. Dabei empfindet sie sich selbst als „mürrisch und verschlossen, aber nicht paranoid“. Ihren Aadhaar aber hat sie dennoch gesperrt. Denn „in dieser Hinsicht“ ist sie „altmodisch“. Später wird sie sich den Chip sogar aus dem Fleisch schneiden.

Zu Beginn des Romans durchlebt Meena eine der „manischen Phasen“ ihrer „Psychose“. Außerdem schleppt sie schon zeitlebens ein vorgeburtliches Trauma mit sich herum. Denn ihre Mutter wurde ermordet, als sie schwanger mit ihr war. Meena selbst konnte zwar gerettet werden, spürte aber, „wie meine Mutter um mich herum starb“. Um die noch immer flüchtige Mörderin ihrer Eltern zu stellen, begibt sie sich auf die titelstiftende Brücke quer über das Arabische Meer.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass es sich bei dem Bauwerk gar nicht um eine begeh- oder gar befahrbare Brücke im eigentlichen Sinn handelt. So trifft denn auch der Titel der amerikanischen Originalausgabe The Girl on the Road den Kern der Story weit besser. Die in dem Roman Trail genannte ‚Brücke‘ ist tatsächlich eine Ponton-Brücke, die einzig zur Energie-Erzeugung dient. Denn ihre nur einen Quadratmeter große Einzelteile sind auf eine Weise miteinander verbunden, dass die ozeanische Wellenbewegung sie ständig so gegeneinander verschiebt, dass ein raffinierter Mechanismus in den ‚Scharnieren‘ zwischen den einzelnen Segmenten Strom erzeugt. Eine Idee, deren Technik von der Autorin, einer Bio- und Geochemikerin, recht detailliert beschrieben wird, obwohl sie für die eigentliche Handlung wenig von Belang ist. Da die „Transarabischer Lineargenerator, kurz TALG“ genannte interkontinentale Verbindung ausschließlich zur Energiegewinnung dient, ist es nicht einmal gestattet, sie zu betreten.

Meena, die zwar in Indien lebt, jedoch in Äthiopien geboren wurde, kümmert das allerdings wenig. Sie zögert nicht und nimmt die Lesenden mit auf ihren langen Weg „zwischen zwei Horizonten“, der zugleich einer in die Psyche dieser merkwürdigen Frau ist. Da sie auf ihrer monatelangen Fußreise „nichts anderes zu tun“ hat, denkt sie über die Menschen nach, mit denen sie im Laufe ihres Lebens näher zu tun hatte. „Sie sitzen in meinem Kopf und reden mit mir. Das ist jetzt mein Leben. Damit vertreibe ich mir die Zeit.“ Dabei kommt ihr manches erotische Erlebnis in Erinnerung, zwar nicht selten detailliert, nie jedoch obszön oder auch nur schlüpfrig erzählt.

Meenas Geschichte spielt in der Handlungsgegenwart und wird dementsprechend im Präsenz erzählt. Die andere Protagonistin, Mariama, aber berichtet einer von ihr als „Göttin“ verehrten Frau von ihrer Kindheit. Ihre Geschichte handelt also in der Vergangenheit und wird darum im Imperfekt erzählt. Beide aber berichten sie gleichermaßen unaufgeregt. Bei Mariamas durchaus dramatischen Kindheitserinnerungen ist dies wenig verwunderlich, liegen sie für die Erzählerin doch lange zurück, und das Kind, das sie einmal war, ist sich der überall dräuenden Gefahren wohl kaum recht bewusst gewesen. Auch die kleine Mariama war damals auf dem Weg zum Horn von Afrika. Allerdings weder zu Fuß, noch über das Meer, sondern in einem Lastwagen von der Westküste Afrikas kommend durch größere und kleinere Orte entlang der Randgebiete zwischen Urwald und Wüste. Das war im Jahr 2023. Nun, nach fast einem halben Jahrhundert fühlt sie sich durch eine Wiederbegegnung mit jener mysteriösen Frau, die den Namen einer Göttin trägt, an ihre große Kindheitsreise erinnert. Ihr erzählt sie die Geschichte ihrer ebenfalls monatelangen Fahrt, obwohl diese sie längst kennen müsste, war sie doch einst die Begleiterin und Mentorin des Kindes.

In Addis Abeba, so vermutet man bald, werden Meena und Mariama einander begegnen und womöglich so manches der Rätsel lösen, von denen sich während der Lektüre jedoch zunächst immer weitere auftun. Zudem lassen sich immer wieder gewisse Parallelen zwischen den Geschehnissen der beiden kunstreich komponierten Geschichten bemerken, die keineswegs so geradlinig verlaufen wie der Trail, sondern vielfach in sich selbst und ineinander verschlungen sind. Dabei zieht sich ein großer Spannungsbogen durch den Roman. Doch auch den Aufmerksamsten dürften einige der unzähligen Metaphern, Doppeldeutigkeiten, versteckten Konnotationen und Anspielungen entgehen, mit denen Byrne ihren Roman geradezu gespickt hat.

Mag die einsame Meena auf dem langen Weg von Horizont zu Horizont, von Küste zu Küste auch einmal klagen: „Ich langweile mich. So sehen Abenteuer in der Wirklichkeit aus“, so ist das in jeder Hinsicht originelle Buch selbst doch alles andere als langweilig. Und es ist auch gar kein Abenteuerbuch. Die Wahrheit aber „wird uns erst offenbart, wenn wir dafür bereit sind“. So viel jedoch verrät es schon von Beginn an: Es geht um eine Beziehung zwischen Tochter und Mutter.

Titelbild

Monica Byrne: Die Brücke. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Holicki.
Heyne Verlag, München 2015.
448 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783453417847

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