L'écriture hebraïser

Joachim Valentin thematisiert Bezüge zwischen Derridas Denken und jüdischer Tradition

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bereits in einem frühen Text zu Edmond Jabès in "L'écriture et la différance" (dt. "Die Schrift und die Differenz") skizzierte Meditation über das "Jüdisch-Sein" nach der "répétition nazie" meldet sich in späteren Schriften Derridas immer wieder vehement zu Wort. In "Positionen" etwa ist zu lesen: "Angenommen, man wüßte, was 'jüdisch' im allgemeinen bedeutet, es wären jüdische Elemente in meiner Arbeit und diese Elemente würden sich nicht durch den Inhalt manifestieren, dann würde man sehr viele Voraussetzungen machen müssen, um hier von diesem mutmaßlichen Judentum sprechen zu können." Auch wenn Derrida immer wieder von sich selbst sagt, dass er das Hebräische nicht beherrsche und in seiner Jugend niemals Unterricht in der Thora oder den rabbinischen Schriften erhalten habe, bewegt er sich ständig in der metaphorischen Dimension jüdischen Denkens. Diese Distanzierung von der Tradition des Volkes, das Lyotard in "Heidegger et 'les juifs'" zutreffend als "das Andere der abendländischen Geschichte" bezeichnet hat, mag ihren Grund in den immer wieder anzutreffenden Verdächtigungen verschiedener Philosophen haben, die Derridas dekonstruktiven Ansatz pauschal als Ausdruck einer 'negativen Theologie' (oft unzutreffend als "jüdische Mystik" verspottet) zu etikettieren suchen und dabei zwischen den Zeilen auf seine jüdische Herkunft zu sprechen kommen.

Gegen diese kritischen, aber viel zu kurz greifenden Äußerungen über sein Werk wandte sich Derrida bekanntlich in einem Vortrag, den er 1987 in Jerusalem hielt. Insgesamt wollte Derrida mit seiner Arbeit ein Versprechen einlösen, nämlich über das "Nicht-Sprechen" zu sprechen oder über das Rätsel der Vermeidung des Sprechens. Dies kommt in dem englischen Titel des Vortrags deutlicher zum Ausdruck: "How to avoid speaking" (dt. "Wie nicht sprechen. Verneinungen"). Damit ist zugleich die erste Abgrenzung von der negativen Theologie gegeben, von "dem prädikativen oder judikativen Raum der Rede", in dem diese negativ über Gott spricht. Weiterhin werden in dem genannten Vortrag vier verschiedene Autoren und Texte besprochen: Dionysos Areopagita, Meister Eckhart, Platon und Heidegger. Sie sollen verdeutlichen, wie die negative Theologie spricht, wenn sie vermeidet, von Gott zu sprechen, um so diesen negativen Diskurs genauer von demjenigen Derridas abzugrenzen. Was Derrida "das Naheste" ist, die jüdisch-arabischen Überlieferungen, hat er allerdings auch hier, bei der Negativität des Nicht-Sprechens, ausgespart. Dies hat sicherlich seinen Grund darin, dass er eine umstandslose Identifizierung mit der jüdischen Tradition entschieden von sich weist. Das Idiomatische ist für Derrida niemals ein gesichertes Eigenes, sondern das Eigene unter der steten Drohung seiner Exilierung, wobei die Metapher des Exils sich damit als die Beschreibungsform jeglicher nachmetaphysischen Sprachsituation erweist, im Speziellen aber der jüdischen, wie sie Derrida jüngst in "Le monolinguisme de l'autre" entwickelt hat. An Rosenzweig, Scholem, Lévinas, Kafka und Celan erörtert er die "depropriation de la langue attribué au 'peuple juif'", die Unmöglichkeit einer eigenen Sprache. Das Exil figuriert als "question des Juifs et de 'leur' langue étrangère" und damit als eine eminent politische Frage, während die Schrift-Metapher des Exils im katastrophischen Blick auf die Leerstelle des göttlichen, transzendentalen Signifikats verweist.

Diese stille Öffnung der Texte und die dadurch sichtbar werdenden Brüche, Risse und Spuren in der Sprache nimmt Joachim Valentin zum Anlass, die Frage nach Derridas Verhältnis zum Judentum an den Versuch zu koppeln, Derridas Schriftbegriff vor dem Hintergrund rabbinischer Thorainterpretation zu verstehen. Der "offengehaltene Pluralismus der verschiedensten Lesarten" wird als Einübung in das Wahrnehmen des Anderen verstanden: "Die marginalisierten Teile eines Textes müßten also in der Lektüre bestärkt werden, aber nicht, weil sie an sich einen höheren Rang haben, sondern um ihre ursprüngliche Bedeutung gegen die Privilegierungen der übermächtigen Tradition zu verteidigen." Der Autor stellt in vier dicht geschriebenen Kapiteln interessante Verbindungen zwischen Derridas metaphysikkritischen Motiven sowie dekonstruktiver Textanalyse auf der einen und der jüdisch-christlichen Tradition auf der anderen Seite her. Dabei markiert er jüdische Hermeneutik und Poesie, die Denktradition der negativen Theologie und die breiten Ausdrucksformen christlicher Mystik als unmittelbare Folien von Derridas Denken.

In einem ersten Kapitel thematisiert Valentin das Verhältnis der Theologie zur Metaphysik im Zusammenhang des Derridaschen Denkansatzes. Vielfach bekannte Überlegungen zu den Begriffen "différance", "trace" und "déconstruction" bzw. "dissemination" werden einer äußerst interessanten theologischen Re-Lektüre unterzogen, mit dem Ergebnis, dass die Derrida häufig unterstellte radikale Metaphysikkritik einer Neubewertung Platz zu machen habe. Mindestens genauso zentral sei die Suche nach nichtmetaphysischen "Alternativen", um "ein 'Voraus' der Sprache zu denken, die das berechtigte Anliegen traditioneller Metaphysik rettet, ohne ihren Identifizierungen und Verabsolutierungen zu verfallen." Valentin zufolge verorte Derrida diese alternativen Versuche in der Tradition und Geschichte, den Interpretationstechniken und dem narrativen Material des Judentums. Die Grundintentionen Derridascher Philosophie im Hinblick auf einen nachmetaphysischen Gottesbegriff lassen sich nur dann begrifflich fassen, so weist Valentin überzeugend nach, wenn man sie vom Kontext jüdischen Denkens her zu erschließen versucht.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit steht daher die Frage, wie sich Derridas Schriften vor dem Hintergrund der Spekulationen über die unterschiedlichen Namen Gottes und des Bilderverbots in der Thora sowie verschiedenen Texten der rabbinischen Tradition bzw. der jüdischen Mystik und nicht zuletzt in der produktiven Auseinandersetzung mit Texten von Lévinas, Jabès und Celan lesen lassen. Derridas Vorgehensweise führt zu paradoxen und hermetischen Formulierungen, die unübersehbar an Texte christlicher Mystiker, des Neuplatonismus und der negativen Theologie erinnern. In diesem Zusammenhang kommt Valentin zu dem plausiblen Ergebnis, dass Derrida "Gott nurmehr als zu postulierenden Ursprung jedes Sprechens, als Name für die Geschichtlichkeit der jedem Bewußtseinsakt vorgängigen Sprachlichkeit menschlicher Existenz [versteht]." Die hier bereits postulierte Anschlussfähigkeit Derridas an theologische Reflexionen der Moderne werden im letzten Teil der Untersuchung noch einmal vertieft, wo der Autor Konsequenzen der Derridaschen Metaphysikkritik, seiner Aufmerksamkeit für das Judentum sowie seines Begriffs der negativen Theologie für eine Theologie der späten Moderne aufzeigt.

Valentin gelingt es, auf sehr überzeugende Weise deutlich zu machen, dass Derrida überall dort, wo er in seinen Schriften das "Datum", die "Beschneidung", die "Verwundung" allgemein und in/an der Sprache im Speziellen thematisiert, nicht umhin kommt, sein Schreiben in der jüdischen Text-Tradition zu situieren, wenn er auch zugleich die Möglichkeit von Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft überhaupt grundsätzlich in Frage stellt. Das sich hier abzeichnende Denken einer gestörten, fundamental ausgelieferten Identität, der Schrift, eines in der Schöpfung abwesenden Gottes und die konstruktive Zertrümmerung eines wie auch immer gedachten Sinnganzen schließt - bewusst oder unbewusst - an die jüdische Tradition an. Derridas Rekurs hierauf verdichtet im Wesentlichen drei Aspekte einer nachmetaphysischen Sprachtheorie: "La négativité en Dieu" bezeichnet eine zugleich sprachliche und metaphysische Negativität, die in der Negativität Gottes als dem transzendentalen Signifikat allegorisiert ist, "l'exil comme écriture" thematisiert die immanente, metonymische Verkettung der Signifikanten und "la vie de la lettre" schließlich benennt eine Körperlichkeit der Sprache, die sich jeder semantischen Eindeutigkeit verschließt. In "L'écriture et la différance" findet sich eine Verdichtung dieser Aspekte in einem Bild: "Es gibt aber vielleicht keine Selbstidentität des Juden. Jude wäre ein anderer Name für diese Unmöglichkeit ein Selbst zu sein. Der Jude ist gebrochen, er ist es zunächst zwischen diesen beiden Dimensionen des Schriftzeichens: der Allegorie und der Literalität."

Es sollte nicht vergessen werden, dass hier eine postreligiöse textuelle Tradition sichtbar wird, die gleichzeitig als Bekenntnis zu und als Distanzierung von der historisch-religiösen Tradition des Judentums gelesen werden kann. Das große und sicherlich bleibende Verdienst der Untersuchung von Joachim Valentin ist es, Derridas Denken der beschnittenen Identität und der endlichen/unendlichen Alterität im Kontext jüdischer Hermeneutik zu lesen. Jüdische Tradition wird dabei nicht als konfessioneller Metatext verstanden, sondern als "Gestus des Denkens und Schreibens", in dem sich die jahrhundertelange Verfolgungssituation des jüdischen Volkes spiegelt und das sich gleichzeitig bemüht, die Ausgrenzungsmechanismen des abendländischen Denkens zu desavouieren. En passant ist Valentin eine gut lesbare (!) und fachlich hervorragende Einführung in das Denken Derridas gelungen.

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Joachim Valentin: Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida. Vorwort von Hansjürgen Verweyen.
DUV GWV Fachverlag, Mainz 1997.
296 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3786720339

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