Lokalkolorit in der Antiliteratur

Terézia Mora legt nach ihrer fulminanten Klagenfurter Lesung ihren ersten Prosaband "Seltsame Materie" vor

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Utopie einer genuinen Nationalliteratur kann angesichts von Immigrantenbewegung und Globalisierung (eben auch auf literarischer Ebene) nicht länger aufrechterhalten werden. Zunehmend prägen neue, fremde Zungen den Tonfall der deutschen Literatur. Im günstigsten Fall tragen sie zu einer Bereicherung der literarischen Landschaften bei. Im ungünstigsten Fall zitieren sie Sprache und Stil anderer Autoren und orientieren sich an der Literatur der durch Coca-Cola neu imperialisierten Länder. Literatur muss somit für pseudo(post)modernistische und vulgärjournalistische Sprachexperimente herhalten.

Dass die Welt dennoch ein Dorf bleiben kann und sich so global gar nicht präsentiert, wie die Weltvereinigungseuphoristen der Wallstreet das gerne hätten, beweist Terézia Moras Erzählband "Seltsame Materie". Als eine wirre Ansammlung heruntergekommener Häuser, durchsetzt von Schlammstraßen und beleuchtet von nur drei Laternen, beschwört sie ein Bild jenes westlichsten aller kommunistischen Staaten herauf, an dem der Jahresplan vorbeigegangen ist. Was bleibt, ist die Flucht: in den Westen, in andere Körper, in den Schlaf und dessen Bruder, den Tod. Terézia Mora, der die Flucht aus Ungarn gelang und die sich nun freischreibt, würzt die Erzählungen mit dem notwendigen Lokalkolorit (Zigeuner), der unumgänglichen Depression und der mythischen Verwandtschaft. Dass es ihr dabei nicht um ein autobiographisches Erzählen geht, verdeutlicht das Personenregister: einmal hat die Ich-Erzählerin sieben Brüder, mal einen usf. Vielmehr schlüpft das immer präsente Ich in unterschiedlichste Rollen: Männer und Frauen, Alte und Junge erhalten ein Organ. Mit vielen Mündern gleichzeitig sprechend und dennoch immer eine eigene Stimme bewahrend, verleiht Terézia Mora ihren Erzählungen Spannung, Farbe und Relief. Dadurch bekommen sie eine romanhafte Geschlossenheit, die sich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausrichtet; Details erhalten gestikale Bedeutungen. Keine vordergründige Psychologisierung, keine oberflächliche Handlungsorientierung, keine erklärenden oder kommentierenden Passagen: ein Stück Antiliteratur, das tiefer schürft, das Sprache plastisch meißelt und Sätze gestaltet. Nicht artifiziell oder manieristisch, sondern kraftvoll und immer dem fortgeführten Erzählen verpflichtet, widmet sie sich der Materie und entwickelt aus dem Wechselspiel mit der Antimaterie die dritte, synthetische, die "seltsame" Materie, "die schwer zu fassen ist." Dass sie dafür den Ingeborg-Bachmann-Preis 1999 zugesprochen bekam, ist mehr als angemessen.

Titelbild

Terézia Mora: Seltsame Materie. Taschenbuch-Ausgabe.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
8,60 EUR.
ISBN-10: 3499228947

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