Helmbrecht-Sommer

Die aktuelle Wernher-Forschung in einem Tagungsband

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte des Bauernsohns Helmbrecht dürfte allen Mediävistik-Studenten schon einmal begegnet sein, denn im Proseminar liefert diese tragische Gestalt als einer der (aus Sicht der modernen Rezeptions- und Forschungsgeschichte) populärsten Helden des Mittelalters geradezu regelmäßig den Einstieg in eine ferne Welt und in ein fernes Denken. In der mediävistischen Forschung hat Helmbrecht ebenfalls - man möchte beinahe sagen: 'schon immer' - eine wichtige Rolle gespielt. Bernd Steinbauer nennt das Werk im vorgestellten Tagungsband deshalb sicher zu Recht einen "Evergreen des akademischen Unterrichts und ein[en] unbestrittenen Bestandteil des Kanons der mittelalterlichen deutschen Literatur". Nicht weniger als "21 Übersetzungen, 18 epische Bearbeitungen, 19 Dramen, 2 Opern und 3 Hörspiele" belegen die fortwährende Popularität des Stoffs - freilich primär in den universitären Seminarräumen und in einem geographisch doch recht beschränkten bairisch-österreichischen Rezeptionsraum. Und schon im Mittelalter scheint der Text angesichts der spärlichen Überlieferungsdecke eher einem kleinen, exklusiven Publikumskreis bekannt gewesen zu sein. Erhalten sind nur zwei Handschriften des 15. und frühen 16. Jahrhunderts aus adligem (Hs. B) und kaiserlichem (Hs. A) Besitz.

Hier, irgendwo in einer Grauzone zwischen Forschung, Lehre und lokal-laikaler Adaption des Stoffs ist der vorliegende Tagungsband angesiedelt. Er begleitet einerseits den 'Helmbrecht-Sommer' 2001, der mit den Burghausener Helmbrecht-Spielen seinen dramatisch-populären Höhepunkt hatte, und bietet andererseits sowohl für ein Fachpublikum als auch für eine breitere Öffentlichkeit den Zugang zu Wernhers Dichtung bzw. zur Welt seines Helden Helmbrecht.

Den literarhistorischen Rahmen steckt Fritz Peter Knapp, zweifellos einer der besten Kenner der bayerisch-österreichischen Literaturszene des Mittelalters, mit seinem Beitrag "Standesverräter und Heimatverächter in der bayerisch-österreichischen Literatur des Spätmittelalters" ab. Knapp exzerpiert zu diesem Zweck die einschlägigen Teile seiner "Geschichte der Literatur in Österreich". Neben einer kurzen Skizze der politischen und sozialen Entwicklungen hebt Knapp vor allem auf die literarischen Vorbilder und das literarische Umfeld ab. Als zentrale Gestalten und Werke kann er dabei den berühmten Minnesänger Neidhart, den sog. 'Seifried Helbling', den Chronisten und Dichter Jans von Wien - in der Forschungsliteratur besser (fälschlich) als Jans Enikel bekannt -, die "Österreichische Reimchronik", Heinrich den Teichner und Peter Suchenwirt ausmachen: Neidhart-Kenntnis wird vorausgesetzt. Den Handlungsrahmen des 'Seifried Helbling' erschließt eine prägnante Paraphrase des Inhalts. Kurze Stichworte lassen in Umrissen die Konturen der Chroniken erkennen. Umfangreicher sind wieder die Abschnitte zum Teichner und zu Suchenwirt.

Für einen umfassenderen Einblick in die soziale und literarische Situation im späten 13. und 14. Jahrhundert bleibt man aber auf Knapps österreichische Literaturgeschichte angewiesen.

Direkt in Detailfragen der Helmbrecht-Forschung führt anschließend Hannes Kästner in seinem Beitrag ',Fride und reht' im 'Helmbrecht'. Kästner nimmt wie Knapp seinen Ausgang in der historischen Situation: Mit dem Tod Kaiser Heinrichs VI. im Jahr 1197 treibt das Reich in die Katastrophe. Nach der Doppelwahl des Jahres 1198 mit Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braunschweig-Lüneburg "herrschen in Deutschland bürgerkriegsähnliche Zustände". Das Walther-Zitat aus der berühmten ersten Strophe des abgedruckten 'Reichstons' umreißt die Situation prägnanter als jeder neuzeitliche Kommentar. "Drei Generationen später, nach dem Interregnum, in dem ebenfalls eine doppelte Königswahl die Schwäche des deutschen Reichs anzeigt, lässt der Märenautor Wernher der Gärtner seine Exempelfigur, den Räuber und Wegelagerer Helmbrecht, am Schluß auf grausame Weise zu Tode kommen". Jetzt ist der Friede wieder hergestellt.

Im Zentrum des Werks sieht Kästner genau diese Idee des Friedens. Kästner geht konsequent der Friedensidee nach und gelangt zu Berthold von Regensburg. In den Predigten dieses berühmtesten franziskanischen Predigers des 13. Jahrhunderts findet er die selben Überlegungen zum Frieden, zum Teil sogar verpackt in ganz ähnliche Worte und Metaphern. Kästner präpariert in minutiöser Detailanalyse die Parallelen zwischen dem Dichter Wernher und dem franziskanischen Prediger Berthold heraus. Unmittelbar gegen Berthold gelesen, entpuppen sich zahlreiche Passagen des "Helmbrecht" geradezu als franziskanisch. Kästners Franziskaner-These ist freilich nicht neu. Schon 1925 hatte Charles Edward Gough "vorgeschlagen, im Autor Wernher einen Franziskaner zu sehen". Gough erntete dafür unter anderem von keinem geringeren als Kurt Ruh heftige Kritik. Die Nähe zu franziskanischen Ideen stellte er jedoch nicht in Frage. Er sah seinerseits ein lateinisches Predigtexempel aus dem Berthold-Umkreis als Vorbild für einen weltlichen Dichter Wernher. Kästner tendiert nach Analyse aller Belege nun wieder vorsichtig zur alten Franziskanerthese. Als Argument führt er unter anderem die Diskussionen um einen franziskanischen Hintergrund des Stricker an. Kästner macht aber auch deutlich, dass trotz der überzeugend herausgestellten Nähe zu den Franziskanern letztlich noch nichts über den Status des Dichters gesagt ist. Was wir über die Biographie des Dichters wissen, bezieht sich allein auf die mehr als zweifelhaften Aussagen in seinem Werk. "Was bleibt, ist die wie bei Wernhers Dichterkollegen, dem Stricker, nachweisbare Nähe seines Werks zur mendikantischen Predigt und ihre Beeinflussung speziell durch franziskanische Unterweisung über die rechte Ordnung in der Welt, das richtige Verhalten in einer von Gott gegliederten Gesellschaft und den rechten wec ze himelrîche. Mehr wird sich vorerst nicht sagen lassen" -so Kästners jedoch keinesfalls resignierendes Fazit.

In eine ganz andere, profane Welt führt den Leser Ulrich Seelbach. Er betrachtet unter dem Titel "Hildemar und Helmbrecht" den "Helmbrecht" durch die Brille Neidharts. Seelbach entwickelt zunächst ein literarisches und zugleich historisch-politisches Profil des neidhartschen Werks. Das besondere Augenmerk gilt den Winterliedern 28 und 29. Bei Winterlied 28 geht es um die Absage des Sängers an die von ihm lange verehrte Minneherrin: Trotz seines Dienstes bleibt die Entlohnung aus. Die Frage nach der ominösen Minneherrin findet in dem Lied eine überraschende Wendung, denn ihr Name lautet Werltsüeze. Die Absage bezieht sich also auf das 'süße Leben' - ein Gegenentwurf zum ruhm- und vergnügungssüchtigen Helmbrecht-Sohn. Mit einer subtilen Interpretation des Liedes stellt Seelbach einen Bezug zur hoch brisanten politischen Situation des Jahres 1236 her, als der österreichische Herzog, der Gönner Neidharts, die Bauern zu den Waffen gerufen hatte, um sich gegen seine eigene adelige Gefolgschaft und das Reich zu behaupten. Nach Seelbach war damit die ständische Ordnung des Herzogtums so grundlegend durcheinander geraten, dass Freude und Ehre am Herzogshof schwerlich noch eine Basis hatten.

Genau diese Situation scheint Wernher durch seine zahlreichen intertextuellen Neidhart-Bezüge in den Helmbrecht hineinzutransferieren. Seelbach versteht Neidharts Winterlieder damit gleichsam als Schlüssel zur Interpretation des Helmbrecht. Dass dies natürlich nur möglich ist, wenn dem zwei oder drei Jahrzehnte später anzusetzenden Helmbrecht-Publikum Neidharts Lieder weiter präsent waren, versteht sich von selbst. Einige direkte Anleihen aus dem zweiten der genannten Winterlieder, dem Winterlied 29, belegen die Vermutung denn auch eindrücklich: Neidharts dörper Hildemar erscheint letztlich wie der Vorgänger von Wernhers meier-Sohn Helmbrecht. Ob man allerdings wirklich so weit gehen sollte, Wernhers Helmbrecht als "erzählerische Wiedergeburt Hildemars" zu bezeichnen? Eine zusätzliche zweite Linie zum Helmbrecht-Verständnis reißt Seelbach mit den auch schon von Knapp und Kästner angedeuteten Parallelen zum 'Seifrid Helbling' und den Predigten Bertholds von Regensburg nur kurz an.

Nach diesen literatur- und sozialgeschichtlich überaus facettenreichen und zum Teil mit subtilen Interpretationsansätzen gepaarten Betrachtungen wartet auf den folgenden zehn Seiten eine Überraschung. Bernd Steinbauer führt den Leser mit "Schlintsgäu aus dem Jogelland. Franz Eiselts Nacherzählung des 'Helmbrecht' in oststeirischer Mundart" unversehens ins 20. Jahrhundert. Die behandelte aktuelle Übersetzung des mittelhochdeutschen Epos in eine oststeirische Mundart mutet dabei zweifellos exotisch an, zeigt aber andererseits deutlich, wie präsent der Stoff in bestimmten geographischen Regionen auch heute noch ist. Ob es Steinbauer mit seiner Hommage an Eiselts Übersetzung freilich gelingt, "Eiselts Buch vor dem Schicksal [zu] bewahren, im besten Fall nur als bibliographische Notiz oder Fußnote zur Kenntnis genommen zu werden", erscheint mir denn doch zu optimistisch. Die regionale Spezifik des Stoffs setzte schon der mittelalterlichen Rezeption enge geographische Grenzen, der oststeirische Dialekt der Übersetzung dürfte denn vollends nur noch für einen kleinen Kreis von Lokalpatrioten von Interesse sein. Interessant ist der Ausblick auf ein solches Zeugnis lebendiger Mittelalterrezeption aber allemal.

Zurück in die Welt der Wissenschaft führt die als Nachtrag zur 1981 erschienenen Wernher-Bibliographie konzipierte "Bibliographie zu Wernher" von Ulrich Seelbach.

In gewohnter Qualität bietet Seelbach ein überaus breit gestreutes Spektrum einschlägiger Titel zum Werk Wernhers. Die Konzeption als Nachtragsbibliographie verlangt allerdings zwingend, den 1981 bei Erich Schmidt erschienenen Vorgängerband in Händen zu halten. Leider ist nur die Nachtragsbibliographie im Internet als PDF-file unter http://www.perspicuitas.uni-essen.de/aufsatz/wernbib.pdf abrufbar.

Was bleibt als Fazit festzuhalten? Insgesamt bietet der Tagungsband einen - manchmal sehr - knappen Querschnitt durch die aktuelle Wernher-Forschung. Die Beiträge sind dabei so konzipiert, dass auch einem wenig(er) literarhistorisch vorgeprägten Leser der Einstieg in das Thema möglich bleibt. Die durchaus subtil entwickelten Forschungspositionen vor allem in den Beiträgen von Seelbach und Kästner verlangen zum vollen Verständnis allerdings neben einer aktiven Präsenz des "Helmbrecht" auch weitergehende literarhistorische Kenntnisse, die man sich freilich mit Knapps österreichischer Literaturgeschichte leicht erwerben kann. Seinen Beitrag am Anfang des Bandes mag man als Einstieg in dieses mehrbändige Grundlagenwerk verstehen. Für die Helmbrecht-Forschung von größtem Interesse ist die Nachtrags-Bibliographie Ulrich Seelbachs. Sie erlaubt nun wieder den unbegrenzten Zugriff auf das gesamte Forschungsspektrum. Über Rubriken wie 'Literarische Verarbeitungen' und 'Behandlung in der Schule' oder 'Realien' bietet diese Bibliographie auch für Pädagogen, Neugermanisten und Kulturhistoriker einen qualifizierten Zugang zu diesem "unbestrittenen Bestandteil des Kanons der mittelalterlichen deutschen Literatur". Mit diesen Beiträgen böte der Tagungsband das übliche mediävistische Spektrum. Steinbauer bzw. Franz Eiselts Mundartübersetzung reißen den Leser aber unvermittelt aus dem ,Elfenbeinturm der Wissenschaft' heraus. Der Rezensent weiß mit diesem überraschenden Konventionsbruch allerdings nicht recht etwas anzufangen. Vielen Lesern nördlich der Mainlinie mag es ähnlich gehen, aber im Umkreis lokaler Helmbrecht-Traditionen ... Die Lektüre des gut verständlichen Tagungsbandes weckt jedenfalls Interesse an mehr Helmbrecht. Abschließend sei deshalb jedem das ebenso spannende wie unterhaltsame mittelhochdeutsche ,Original' Wernhers des Gärtners zur Lektüre empfohlen.

Titelbild

Wernher der Gärtner: Helmbrecht. Beiträge des Helmbrecht-Symposions in Burghausen 2001.
Herausgegeben von Theodor Nolte und Tobias Schneider.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2001.
120 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3777611301

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch