Mit englischer Behendigkeit

Hans Magnus Enzensberger als Nachdichter

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Magnus Enzensberger betreibt das Übersetzungsgeschäft nicht zum Broterwerb, sondern zum Lustgewinn. Er hat offenbar selbst am meisten davon, denn er lernt durch Nachdichten und erweitert sein Repertoire in Sprache und Landeskunde. Jedes Gedicht, jedes Drama transportiert eine Fülle von Anspielungen, Wissenselementen, Subtexten, die das Fremde und Besondere in einen kulturellen Kontext stellen. Enzensbergers Nachdichtungen, Aktualisierungen und Verschlankungen, in Anthologien und Zeitschriften erschienen oder im Theater aufgeführt (zum Beispiel "Tochter der Luft" nach Calderón), holen das Gestern ins Heute und das Fremde ins Eigene. Ein knapp 400 Seiten starker Band mit Gedichten ist aus Anlaß seines 70. Geburtstages im Suhrkamp Verlag erschienen.

"Geisterstimmen" enthält, wie der Untertitel besagt, "Übersetzungen und Imitationen". Einige Imitationen erinnern an die "Wasserzeichen der Poesie" (1985). Lustvoll werden hier Vorlagen dekonstruiert, zum Beispiel Friedrich Rückerts seltsam ungelenkes Gedicht "Amara". Es verleitet Enzensberger dazu, eine Pidgin-Version im 'Türkendeutsch' zu schreiben (was er so niemals sagen würde), die auf ein paar wenigen Ersetzungsoperationen beruht: Das Wort "Gitter" (und seine Derivate) bei Rückert wird durch das Wort "nix gut" bei Enzensberger ersetzt, das Wort "süß" durch "gut". Dabei entsteht ein Zwiegespräch über 200 Jahre hinweg, eine Übertragung vom schlechten Deutsch ins schlechte Deutsche, die durch ihre einfachen Mittel überzeugt und besticht.

Brechts berühmtes Gedicht "Der Radwechsel" hat den Nachdichter zu sieben Variationen in klassischen Formen (Alkäische Ode, Distichon, Ghasele, Alexandriner, Terzinen) und "Konkreter Poesie" verführt, die erneut belegen, daß Enzensberger neben Peter Rühmkorf und Robert Gernhardt einer der wenigen Altmeister ist, die noch das tradierte Repertoire der Lyrik nutzen und beherrschen.

Viele der Geisterstimmen sind anderswo schon gedruckt worden, etwa die Verdeutschungen von Edward Lear. Der Band stellt eine reiche Ausbeute aus vierzig Jahren dar. Auf viele Stimmen, die mittlerweile zu Weltruhm gelangt sind, hat Hans Magnus Enzensberger als erster hingewiesen. Der Scout der Weltliteratur, in allerlei Sprachen zu Hause, hat sich von Entdeckerlust und Finderglück gleichermaßen treiben lassen.

Ein anderes Beispiel für Enzensbergers Übertragungslust ist Hilaire Bellocs´ "Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt". Die "Cautionary Tales for Children", 1907 und 1930 erschienen, sind in England ein Klassiker. Es sind paarreimende Erzählgedichte, die aufgrund ihrer Ironie eher an Wilhelm Busch als an Heinrich Hoffmann denken lassen. Die fünfzehn "Lektionen" sind, in bester Kinderbuchtradition, von grotesker Grausamkeit. Hier nimmt das Leben als Kind ein Ende mit Schrecken. Der Junge etwa, der seiner Nanny davonläuft, wird vom Löwen gefressen, und die Moral von der Geschicht' lautet schlicht: "Entschließt euch, Kinder, statt zu flennen, / der Nana niemals durchzubrennen, / damit euch nie ein Löwe frißt, / der schlimmer als das Fräulein ist." Rebekka, die mit den Türen schlägt, wird am Ende von einer Büste erschlagen. Am Beispiel kindlicher Unsitten wird en passant der ewige Kampf der Generationen ausgefochten. Hier arbeitet die Subversivität des Kindes gegen die Autorität der Erwachsenen und geht stets zu Lasten des Kindes. Doch auch die Erwachsenen haben oft das Nachsehen, auch für sie fällt so manche nützliche Lehre ab. Über allen Geschichten bzw. Gedichten liegen Spott, Witz und Sarkasmus. Mit 'englischer' Behendigkeit hat sich Hans Magnus Enzensberger ihrer angenommen.

Titelbild

Hilaire Belloc: Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt. Aus dem Englischen nachgedichtet von Hans Magnus Enzensberger.
Sanssouci Verlag, Zürich 1998.
153 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 3725411395

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Geisterstimmen. Übersetzungen und Imitationen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
320 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3518410571

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch