Weniger ist mehr

Notizen zu 101 Aphorismen von Tobias Grüterich

Von Jacques WirionRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jacques Wirion

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Aphorismenbändchen zu rezensieren, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit - in diesem Falle aber ein Vergnügen:

"Grüterichs große Fähigkeit liegt darin, viel Wahrheit in noch weniger Worten zu sagen, als es sonst der Aphorismus vermag", lautete ein Diktum der Jury des Marburger Literaturpreises, den Grüterich im Jahr 2000 zugesprochen bekam.

Die große Anzahl an Wörtern, welche die philosophischen Bücher in unserer Zeit und auch schon früher ausmachte, ist nichts anderes als ein Beweis für die notorische Angst ihrer Autoren, zu wenig zu sagen. Sie wollen durch die Vervielfachung der Wörter verhindern, dass die 'Wahrheit', die sie vermitteln wollen, nicht erfasst wird. Gleichzeitig bemerken sie aber nicht, dass sie ihre Botschaft mit den eigenen Wortketten langsam, aber sicher verschleiern.

Diesen Fehler begeht Tobias Grüterich nicht. Der junge Autor versteht es wirklich, in seinen Aphorismen das Wesentliche zu treffen. Seine Mittel sind die gängigen der Gattung: Besonders das Wortspiel und das Spiel mit vorgefertigten Sprachmustern erhellen zuweilen blitzartig Zusammenhänge:

"Es gibt in jedem Land läufige Meinungen", lesen wir da, oder: "Der Höfliche ist zuvorkommend, der Unhöfliche kommt ihm zuvor." Oder, sogar noch knapper: "Stammtische dulden keine Verästelungen."

Zuweilen kann hier der Austausch eines einzigen Buchstabens den Gegensatz von Ideologie und Wirklichkeit auf den Punkt bringen, wie etwa in dem Aphorismus: "Demokratie: die Enthaltung der Mehrheit."

Ein Satz wie: "Ein Hochstapler macht nur unter seinesgleichen Karriere" kann zunächst irritieren. Schließlich macht der bekannteste literarische Hochstapler, Thomas Manns Felix Krull, gerade unter Nicht-Hochstaplern Karriere. Doch dann dämmert dem Leser die Lösung: Alle Figuren um Felix Krull, vom Paten Schimmelpreester zu Diane Houpflé über Lord Kilmarnock bis hin zum Marquis de Venosta, Zouzou und Professor Kuckuck sind in der Art, wie sie ihre Identität suchen oder behaupten, in gewisser Weise Hochstapler, und diese tiefe Unsicherheit in Bezug auf die eigene Identität macht sie zu willigen Spielgefährten des Titelhelden.

Auf den ersten Blick scheint auch ein Satz wie der folgende ein biltzgescheiter Treffer zu sein: "Beim Spießrutenlaufen möchte niemand in der zweiten Reihe stehen." Doch bei näherer Überprüfung erscheint die Perspektive plötzlich verquer. Das Wort "Spießrutenlaufen" ruft beim Leser nämlich in erster Linie das Bild des Opfers hervor und nicht das der schlagenden Exekutanten in der ersten oder zweiten Reihe. Auch der Hinweis auf die Verbreitung der menschlichen Grausamkeit wirkt hier eher banal.

Inhaltlich oder thematisch geht es in der Sammlung Grüterichs um Moralistik im französischen Wortsinn, d. h. um die Beschreibung und Aufdeckung der Motive zwischenmenschlichen Handelns. Die meisten Aphorismen verraten diesbezüglich einen feinen Psychologen. Der einzige Satz aber, der Bezug auf die Gattung nimmt, steht als Motto auf der Innenseite des Umschlags und ist eine wenig überzeugende Variante des berühmten Gedankens der Marie von Ebner-Eschenbach. Die Themen Politik, Religion, Liebe und Tod hingegen sind vereinzelt oder gar nicht vertreten, während hie und da das Schreiben und die Kunst bedacht werden.

Doch allein mit einem Satz wie "Doppelzüngig spricht jemand, der nicht ununterbrochen lügt" kann man Tobias Grüterich willkommen heißen in der oft verachteten und verkannten Zunft der Sprücheklopfer, die doch sehr oft gleichsam 'Sprücherupfer' sind: den Aphoristikern.

Titelbild

Tobias Grüterich: Verdiente Ungerechtigkeiten. 101 Aphorismen.
Glaux-Verlag, Jena 2005.
20 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-10: 3931743845

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