Der 13. Februar

Sieben Dresdner Dichter sprechen in dem Band "Die wüste Stadt" über das verheerende Bombardement im Jahr 1945

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hier stand das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Und für mich war es eine Wiese, nichts weiter. Aber dieses Datum markiert doch ein Familientrauma, das immer mittransportiert wurde. Es wurde zu Hause viel davon erzählt. Der 13. Februar war immer präsent, er war ein besonderes Datum. Für mich als Kind waren diese Erzählungen interessant. Es war der Einbruch einer Welt, die ich nicht kannte. In der DDR lebte man doch schon als Kind in einer ganz einschichtigen, ausgedeuteten Alltagswelt, und darin war der 13. Februar etwas, was eine völlig andere Dimension von Wirklichkeit hineinbrachte, ein Riß, ein Loch, das sich so gar nicht einfügen wollte."

Dies berichtet der Lyriker Christian Lehnert, Jahrgang 1969, über die Gespräche mit seinem Vater, der die schweren Angriffe anglo-amerikanischer Bomberverbände auf Dresden am 13. Februar 1945 nur mit Glück überlebt hatte. Lehnert ist der jüngste jener sieben Autoren, die in dem Band "Die wüste Stadt" in Form von Interviews und literarischen Texten zu Wort kommen. Darin versammelt sind Stimmen von Augenzeugen der Februarereignisse wie Heinz Czechowski (geboren 1935), Karl Mickel (1935-2000), B. K. Tragelehn (geboren 1936) und Volker Braun (geboren 1939), Gespräche mit Autoren, die ihre Kindheit in den Trümmern verbracht haben wie Thomas Rosenlöcher (geboren 1947) und Michael Wüstefeld (geboren 1951), sowie von nachgeborenen Dichtern wie dem Büchnerpreisträger Durs Grünbein (geboren 1962) und dem schon genannten Christian Lehnert. Alle geben lesenswerte Auskunft darüber, wie sie durch das einstige barocke Juwel an der Elbe oder besser: den jämmerlichen Rest, der davon übrig geblieben ist, geprägt worden sind. Zwar hat der Herausgeber versucht, in den Gesprächen allerlei mit Dresden in Verbindung stehende Themen zur Diskussion zu stellen (so fragt er etwa immer wieder nach dem Verhältnis der sächsischen Metropole zur preußischen Residenz Berlin), doch diese verblassen naturgemäß angesichts der 60 Jahre zurückliegenden Zerstörung, die stets im Mittelpunkt allen Erzählens steht. Dies kann angesichts der enormen öffentlichen Anteilnahme anlässlich der vor kurzem feierlich begangenen Wiedereröffnung der Dresdner Frauenkirche nicht überraschen. Aber die ohnehin schon bemerkenswerte mediale Präsenz des Bombardements wird ihren Höhepunkt wohl erst im März 2006 erreichen, wenn der zweiteilige Spielfilm "Dresden", den sich das ZDF immerhin zehn Millionen Euro kosten ließ, das Inferno des Feuersturms über den Bildschirm in die heimischen Wohnstuben tragen wird. "Das größte Ereignis dieser Stadt", gibt Durs Grünbein im vorliegenden Band mit einigem Sarkasmus zu Protokoll, noch ohne von der filmischen Umsetzung geahnt zu haben, "ist mit Sicherheit ihr Untergang. Dieser Untergang hat alles getränkt, was mir je einfiel und worüber ich schreibe."

Das alles gibt zu denken, vor allem wenn man sich an die Thesen erinnert, die der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald in seinen Züricher Vorlesungen vortrug, die 1999 unter dem Titel "Luftkrieg und Literatur" erschienen und bis heute für Furore sorgen. Sebald sprach davon, dass die alliierten Luftangriffe bei den Deutschen "kaum eine Schmerzensspur hinterlassen" hätten. Die von ihm zudem konstatierte "individuelle und kollektive Amnesie" begriff er als Vorstufe dafür, daß die Bombardements in der deutschen Nachkriegsgesellschaft nach seinem Dafürhalten als ein "mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis" galten. Doch was bleibt von den Behauptungen übrig angesichts der Einblicke, die die Dresdner Autoren gewähren? Etwa wenn B. K. Tragelehn, der in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts Meisterschüler bei Bertolt Brecht war, die Panik beschreibt, die er noch immer beim Hören von Sirenen hat: "Das war lange Jahre eine ganz physische Reaktion." Und diese physische Reaktion vermittelte sich über das von Katastrophenübungen stimulierte Familiengedächtnis auf Nachgeborene wie Thomas Rosenlöcher: "Und jedesmal am Mittwoch, wenn die Sirenen heulten, fing meine Mutter an, vom Angriff zu reden. Dabei probierte man nur, ob die Sirene noch geht." Geschichten vom Angriff, so berichtet Rosenlöcher, wurden unentwegt erzählt: "Es hieß immer, der und der ist ausgebombt, und der ist noch mal rausgegangen, um noch etwas zu retten, und ist nicht wiedergekommen. Daß die Menschen brennend auf die Straße gelaufen seien - so etwas habe ich als Kind öfter gehört. Und daß Menschen brennend in die Elbe sprangen, und als sie aus dem Wasser kamen, wieder brannten."

Dieses völlig intakte, überraschend tabufreie kommunikative Gedächtnis hat offenbar auch bei Angehörigen späterer Generationen - wie die Aussage Rosenlöchers nahe legt - die "Urangst" ausgelöst, "daß sie wieder Bomben werfen könnten". Auch Michael Wüstefeld hat - so heißt es im Interview - von den Älteren "die Empfindung des Hineingeborenen" mitbekommen, "der mit Tatsachen konfrontiert ist, die nicht mehr zu ändern sind". Sein Vater und seine Mutter seien zwar am Leben geblieben, deren ideeller Verlust sei für ihn jedoch kaum nachvollziehbar: "Die Jahre, in denen meine Eltern sich kennenlernten, in denen sie jung verliebt waren, ins Kino gingen oder ins Kaufhaus Renner, all das war nicht mehr rekapitulierbar. Es war nur noch Erinnerung. Es war auch den Kindern nicht mehr vorzeigbar. Man konnte nicht mehr an die Stelle gehen und sagen: Hier habe ich die Mutter kennengelernt. Das war weg." Dafür steht seine Gedichtzeile: "Erklär mir die Stadt Vater". Wüstefeld räumt darüber hinaus ein, dass die unermüdlichen Berichte bei ihm für eine erstaunliche Sensibilisierung im Umgang mit Sprache gesorgt hätten: "Wenn ich lese, daß eine Stadt ruiniert ist, was ja heute in der Regel meint, daß die Kommune pleite ist, dann löst das bei mir immer ein Erschrecken aus."

Beim Stichwort 13. Februar war laut Thomas Rosenlöcher immer alles zugleich präsent: "die Zerstörung Dresdens, die Teilung Deutschlands und die Angst vor neuen Katastrophen." Vor allem diese individuelle Empfindung gemahnt an eine Schwäche von W. G. Sebalds Annahmen. Kürzlich hat die Germanistin Anne Fuchs in ihrer instruktiven Studie über die Poetik der Erinnerung bei Sebald, die unter dem Titel "Die Schmerzensspuren der Geschichte" (2004) erschien, darauf hingewiesen, dass Sebald der Blick auf die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Ost und West genauso fehle, wie er den Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges unbeachtet ließ. Tatsächlich meint Sebald, wenn er schreibt, dass die "bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion" der Alliierten nur vage verallgemeinert "in die Annalen der neu sich konstituierenden Nation" eingegangen sei, ausschließlich die alte BRD. Denn in der DDR wurde öffentlich und auch von offizieller Seite des Luftkriegs gedacht, wie B. K. Tragelehn bitter bemerkt: "Daß in der DDR immer von dem anglo-amerikanischen Terrorangriff die Rede war, weil die DDR ja bekanntlich an der Seite der Sowjetunion den Krieg gewonnen hatte, das hat mir überhaupt nicht geschmeckt." Und Michael Wüstefeld verdeutlicht: "Der 13. Februar wurde dazu genutzt, jenes pauschale Feindbild, das der real existierende Sozialismus seinen Bürgern vermitteln wollte, zu erhärten." Diese Instrumentalisierung des Gedenkdatums ließ Dresden jenseits der Mauer zu der öffentlich lesbaren Chiffre werden, die Sebald für den Westen eingefordert hat. Nach Durs Grünbein stehe allein der Name seiner Geburtsstadt für ein "kollektives Trauma", das gewissermaßen eine ewige Trauerarbeit nötig mache: "Plötzlich ist da ein Ortsname, in den man alle seine Gefühle und Gedanken investieren kann. Das persönliche wie das kulturelle Trauma bekommt eine Adresse." Für Grünbein ist die Stadt, die er vor 20 Jahren verlassen hat, stets "eine Chiffre für Verlust und Verschwinden" geblieben. Michael Wüstefeld zufolge hätte man dem traumatischen "Gestalt- und Gesichtswandel" gar mit der Umbenennung der Stadt begegnen sollen, "um bis in den Namen hinein deutlich zu machen, daß es das alte Dresden nicht mehr gibt".

Oft ist die Rede von diesem "alten Dresden", über die verschiedenen Altersstufen hinweg. Heinz Czechowski etwa ist sich darüber im Klaren, dass er zur letzten Generation gehört, die noch weiß, "was einmal gewesen ist. Im Traum mache ich oft Stadtgänge durch das alte Dresden. Das sind Bilder, die sich aus Erinnerungen zusammensetzen, auch Erinnerungen an Fotos und Filme." Er ist strikt gegen den in Mode gekommenen Wiederaufbauwahn, im Gedicht "Postplatz" bezeichnet Czechowski die rekonstruierte Frauenkirche wenig schmeichelhaft als "geklonte Kuh". Dafür gibt er auch ethische Gründe an: "Die Pflastersteine vor der Frauenkirche sind noch jene Pflastersteine, auf denen vielleicht Verwandte von mir verbrannt sind. Noch nach dem Krieg hat man dort eingebrannt die Umrisse von Menschen gesehen." Nur schreibend, so Czechowski, habe es Sinn, die Erinnerung an ein Dresden wach zu halten, das es längst nicht mehr gibt: "Die Erinnerung ist doch das einzige Kapital, das ein Schriftsteller hat." Nächtliche Gesichte vom "alten Dresden" beschäftigen seit jeher auch Durs Grünbein: "Schon als Kind hatte ich den Wunsch, das Stadtbild sozusagen im Traum zu komplettieren. Während die Älteren genau wußten, was fehlte, weil sie immer diesen Kontrast sahen, mußte man als Jüngerer vermittels des Phantomschmerzes sich jenen Kontrast erst erarbeiten." Trotzdem lässt ihn die "Rekonstruktionseuphorie" kalt, wie die "Riesenaktion um die Frauenkirche". Den Topos vom "alten Dresden" kennt schließlich auch Thomas Rosenlöcher, der erst nach eingehender Betrachtung des gleichnamigen Bildbands von Fritz Löffler - ein Bestseller der DDR - begriffen habe, was da am 13. Februar 1945 dem Erdboden gleichgemacht worden sei: "Das war ein Schock, in dem sich in gewisser Weise das Trauma der Älteren fortsetzte." Auch er wendet sich gegen den realen Wiederaufbau. Viel sympathischer sei doch ein Gedicht über die Frauenkirche, in dem Schwalben durch deren zerstörtes Dach fliegen: "Dadurch stellte sich die Utopie der Kuppel wieder her." Gleichsam ohne viel Architektenarbeit und Maurermühe.

Das Schreiben über die Zerstörung Dresdens war in der DDR zwar keine Seltenheit, wie beispielsweise der Anfang der 60er Jahre erschienene Roman "Die Feuer sinken" von Eberhard Panitz belegt. Trotzdem widersprach das Schreiben über den Untergang der Stadt der Forderung an die sozialistischen Dichter, den staatlichen Aufbau zu besingen: "Von den Trümmern der Vergangenheit zu sprechen, galt als reaktionär", betont Renatus Deckert, der Herausgeber der Sammlung. Dass sich das Gedicht "Vox Dei 1945" von Karl Mickel bei den "Apparatschiks" keiner besonderen Beliebtheit erfreut haben dürfte, ist leicht nachvollziehbar: "Wenn se uns de Stadt, dr Tommy und Ami / Zerkloppt ni hättn, hätte der, dr Iwan / Uns hingeschlachtet, wie mer sin, beim Einmarsch / Das hätte der ni ausgehalten also / Uns in heilen Städten is ni meechlich." Ein Autor wie Heinz Czechowski aber begriff es aller Hindernisse zum Trotz als Auftrag, die Erinnerung wach zu halten. Es hat nicht viel gefehlt, und er wäre eine Art Walter Kempowski der DDR geworden. "Eigentlich müßte man ununterbrochen Geschichten aufzeichnen. Damals, Anfang der sechziger Jahre, als ich Student in Leipzig war und ab und zu nach Dresden fuhr, kam ich mit der Straßenbahn immer an einer Häuserzeile vorbei, die der Krieg nicht zerstört hatte. Ich wußte: Dort mußten noch Leute wohnen, die die Angriffe miterlebt hatten. Was hatten sie in dieser Nacht gesehen? Wie oft nahm ich mir vor, dort einmal auszusteigen und bei den Leuten zu klingeln, sie danach zu fragen. Ich bin nie ausgestiegen." Obwohl Czechowski nicht zum Stimmensammler à la Kempowski wurde, ist er als literarischer Chronist des 13. Februar 1945 sogar im Westen hervorgetreten - mit dem Text "Landschaft der Kindheit" nämlich, der schon in dem 1970 von Ingeborg Drewitz herausgegeben Band "Städte 1945" zu finden ist. Übrigens an der Seite eines anderen in Dresden zur Welt gekommenen Dichters: Erich Kästner.

Von den "Verdrängungsmechanismen", die W. G. Sebald für das literarische "Überlieferungsdefizit" vom Luftkrieg verantwortlich machte, ist in dem Band "Die wüste Stadt" nichts zu spüren. Das verheerende Bombardement vom 13. Februar 1945 scheint vielmehr für die genannten Autoren das auslösende Moment für Ihr Schreiben zu sein. Für Czechowski sind die Angriffe, die er im Alter von zehn Jahren miterlebte, die "Quelle dessen, was mein Schreiben ausmacht". Für Durs Grünbein, der 17 Jahre nach der Zerstörung geboren wurde, ebenso. Sein Initialerlebnis für das Schreiben war das Besteigen eines stadtbekannten Trümmerbergs: "Mir fielen damals auch schon manche Memorabilien auf, Fotoalben und andere private Überbleibsel, jenseits des typischen Kindheits- oder Jugendinteresses an verwertbarem Müll." Es kann deshalb nicht erstaunen, dass eine Strophe Grünbeins in einem Gedicht, das er seiner Großmutter Dora W. widmete, lautet: "Dresden, die Restestadt...ein Hinterhalt / Für Engel, die der Krieg hier internierte / Vorm Rückflug. Unter Sandstein und Basalt / Sind sie begraben worden."


Titelbild

Renatus Deckert: Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
261 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3458348492

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