Der Infantile

Wolfgang Hildesheimers wiederaufgelegtes "Mozart"-Buch ist die ideale Anti-Lektüre zum affirmativen Vereinnahmungs-Jubiläum

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neue Bücher über Wolfgang Amadeus Mozart werden uns dieses Jahr in Hülle und Fülle nachgeschmissen. Ein Großteil dessen ist natürlich mediokerer Ramsch. Ein solcher 250-jähriger Geburtstag hat es nun einmal so an sich, dass auch die hinterletzten Schmocks, die irgendwann in ihrem Leben einmal die "Kleine Nachtmusik" im Radio gehört haben, aus verlegerischem Kalkül dazu eingeladen werden, ihre stumpfsinnigen Schönwetter-Verfälschungen auf den Markt zu werfen.

Altbewährtes zum rechten Moment wieder neu aufzulegen, ist dagegen seit jeher die von Siegfried Unseld erfundene, nicht unbedingt immer spannende, aber weise Politik des Hauses Suhrkamp gewesen. Und selten machte sie so viel Sinn wie in diesem einen Fall: Wolfgang Hildesheimers umstrittener Mozart-Studie von 1977. Macht sich doch die schon auf der ersten Seite dieses Buchs geäußerte Einsicht, allein das Scheitern sei das gemeinsame Element aller schriftstellerischen Versuche, den berühmten Komponisten als Gestalt erstehen zu lassen, im aktuellen Mediengetöse äußerst wohltuend aus. Und noch gespannter macht Hildesheimers Klarstellung, er habe dies jedoch in seine Arbeit "einkalkuliert".

Ist es nun ein Porträt, eine essayistische Analyse oder doch eine ganze Biografie? Jedenfalls formuliert Hildesheimer gleich zu Beginn: "Die Widersprüche zwischen Mozarts Leben und Wirken, seinen - niemals selbst gestellten - Ansprüchen und der Beziehung zu seiner Mitwelt erhärten sich zu unerbittlichen und endgültigen Tatsachen, die durch nichts mehr zu widerlegen sind, und mit deren permanent wiederkehrender Erfahrung wir zu leben haben".

Fast ist das aus diesem Ansatz heraus als vorsichtige psychologische Fallstudie lesbare Buch also auch noch ein veritabler Beitrag zum Freud-Jahr 2006. Beruht es doch von Anfang bis Ende auf der psychoanalytischen Einsicht, in derartigen Fiktionen - und nichts anderes waren ja auch die von Freud enthüllten "Familienromane" der Neurotiker - manifestiere sich "nicht zuletzt hinter den Gestalten die psychische und mentale Konstitution des Autors", also des unweigerlich gegenübertragenden Analytikers selbst.

Hildesheimer, der sich eigens einer Psychoanalyse unterzog und diese als wichtige Voraussetzung für seine Autorschaft würdigte, versucht hier also gar nicht erst, zu verbergen, dass sein Buch auch eines über sich selbst sei: "Denn es ist unmöglich, eine Gestalt der Vergangenheit, geschweige denn ein Genie, zu verstehen, wenn man niemals den Versuch gemacht hat, sich selbst zu verstehen", schreibt er in seinem Vorwort.

"Da nun aber gemeinhin zwischen der Psyche eines Genies und der des Interpreten wenig Affinität besteht, sollte der Interpret die Erkenntnisse der Psychoanalyse, und zwar einer an sich selbst erfahrenen, anwenden", mahnt er. "Denn sie hat ihn gelehrt, den Grad seiner Beziehung zu und der Identifikation mit seinem Gegenstand zu bestimmen und zu regulieren, somit den positiven wie negativen Affekt so weit wie möglich auszuschalten".

Hildesheimer versucht also in seiner Studie, "aus den Fehlern der existierenden Biographik zu lernen" und distanziert sich von den vielen trivialen Lebensbeschreibungen, die bis dahin über Mozart verfasst worden waren. Die eigenen Affekte und Projektionen auf den rätselhaften Musiker Mozart zu reflektieren und die anmaßende Reaktion der eigenen Seele nicht zum Maßstab eines vor 250 Jahren begonnenen, letztlich in seinen Einzelheiten unergründlichen Lebens zu machen, hat gerade auch in diesen Tagen wieder Seltenheitswert: "Das eben ist das Elend der Trivialbiographie", urteilt Hildesheimer: "Sie findet für alles jene eingängigen Erklärungen innerhalb der für uns zugänglichen und dem Radius unseres Erlebens entsprechenden Wahrscheinlichkeit."

Diesem "Wunschdenken" tritt der Autor entschlossen entgegen, der "Kindskopflegende um das Wolferl aus Salzburg" nämlich, einer "Schöpfung des frühen neunzehnten Jahrhunderts und seitdem gewaltsam aufrecht erhalten, um Mozarts Leben möglichst keinen Finger breit von der Konfirmandengeschenksversion abweichen zu lassen". Ausführlich zitiert Hildesheimer aus den rätselhaft infantilen Briefen und Notaten des Musikers, die zwar in großem Umfang erhalten und ediert, von den meisten Biografen jedoch als launige Hirngespinste eines "derb-komischen Spaßmachers" und "hanswurstigen Mozart" beiseite geschoben und verharmlost wurden und werden.

Ohne Umschweife thematisiert dagegen Hildesheimer beispielsweise die auffällige Analfixierung, die sich in den Briefen des erwachsenen Mozart in nicht anders als derb zu nennenden, koprophilen Fäkalspäßen äußert - ein seltsam pubertärer Humor, mit dem der Komponist offenbar vor allem bei seiner einfältigen Mutter und der ersten Geliebten, dem "Bäsle", seiner Cousine Maria Anna Thekla, auf offene Ohren stieß: "dreck! - - dreck! - o dreck - o süsses wort! - dreck! - schmeck!", frohlockt Mozart am 28. Februar 1778 in einer Nachricht an das "Bäsle".

Hildesheimer zitiert dazu ein Schreiben Stefan Zweigs an Sigmund Freud, in dem Zweig 1931 einen ähnlichen Brief des 21-jährigen Mozart an den Vater der Psychoanalyse sandte, der "ein psychologisch sehr merkwürdiges Licht auf [Mozarts] Erotik [werfe], die, stärker als die irgend eines anderen bedeutenden Menschen, Infantilismus und leidenschaftliche Koprolalie" vermuten ließe.

Und damit nicht genug. Nach Hildesheimers Interpretation der Briefe Mozarts zu urteilen, handelte es sich bei dem erwachsenen "Wunderkind" um einen isolierten Menschen ohne wirkliche Freunde, der sich hinter pathetischen Liebesphrasen und Freundschaftsbeteuerungen verschanzte und seine Adressaten nicht zuletzt unverblümt belog, um sich störende Konflikte vom Leib zu halten. Seine große Liebe Aloisia Weber wollte nichts von ihm wissen, und die Substituts-Ehe mit der Schwester Constanze, laut Hildesheimer schlicht "das Resultat eines erfolgreichen Vorganges der Selbstsuggestion", bestand die meiste Zeit darin, dass sich die Angetraute in den Kurort Baden verabschiedete.

Man mag es ihr nicht einmal unbedingt übel nehmen. Ständig ist der Komponist Mozart auch seinen Verwandten gegenüber in seinen hastig dahingeworfenen Briefen "in eyle" und "mus schliessen" - eine eher zweifelhafte Art, seine Beziehungen aufrecht zu erhalten. Den parallel geäußerten euphemistischen Übertreibungen, den heißen und zugleich seltsam formelhaften Treueschwüren, vor allem auch gegenüber seinem strengen Vater und der von ihm zeitlebens konsequent vernachlässigten Schwester Nannerl, folgten von Seiten Mozarts schließlich kaum noch tatsächliche Besuche, selbst wenn es sich aufgrund reisetechnischer Koinzidenzen anbot.

Zum Ende seines kurzen Lebens hin zogen sich selbst die engsten Freunde von Mozart bereits endgültig zurück: "Er sinkt ab, auf eine niedere Existenz-Ebene", vermerkt Hildesheimer. "Von den ehemaligen Gönnern wird dieser Abstieg nicht mehr zur Kenntnis genommen", schreibt er, und geht sogar noch einen Schritt weiter: "Hätten wir uns in seiner Gesellschaft wohlfgefühlt? Hätte seine extreme, ja, oft gewaltsame, Gelockertheit unsere Lockerung gefördert oder verhindert?" Fast erleichtert stellt Hildesheimer fest, dass wir die Frage, ob man diesen Mozart wirklich gerne bei sich selbst zum Essen eingeladen hätte, nicht mehr beantworten müssten: "Denn wie er sich uns entzieht, entziehen wir uns ihm, indem wir unseren Gewinn abschöpfen und ihn im übrigen seinem dokumentierten und historisch gewordenen Schicksal überlassen".

Wer nun annimmt, Mozarts wachsende gesellschaftliche Isolation sei der nachvollziehbaren genialischen Konzentration auf die asketische Ersinnung 'unsterblicher'' Opernwerke, Fugen und Sinfonien geschuldet gewesen, sieht sich durch Hildesheimers Darstellung mit der geradezu unheimlichen Tatsache konfrontiert, dass der Klaviervirtuose zwar bis zu seinem Tod kontinuierlich komponierte, dies jedoch ebenfalls nur wie automatisch tat, fast lustlos und gleichsam 'nebenbei''.

Ganze Sinfonien und Opern schrieb der schmächtige Mann mit der großen Nase in wenigen Tagen; abhanden gekommene Partituren kopierte er lieber gleich schnell neu aus dem Gedächtnis, anstatt im Haus langwierig danach zu suchen. So teilte er seiner Schwester 1782 in einem typischen Brief entschuldigend mit, er habe "nicht gleich geantwortet", weil er "wegen des mühsammen kleinen Noten schreiben nicht habe eher fertig werden können."

Was war geschehen? Mozart hatte seine neuen Stücke wie immer im Kopf komponiert und musste sie 'nur noch'' niederschreiben - an sich schon ein erstaunlicher Vorgang, doch teilt er hier mit, dass er während dieser auswendigen Niederschrift bereits automatenhaft das nächste Stück komponiert habe: "Demnach hat er also die im Kopf fertige Fuge aus dem Kopf abgeschrieben und währenddessen in demselben Kopf das Praeludium komponiert", staunt Hildesheimer. "Vielleicht hatte er darauf, während er dieses abschrieb, schon ein weiteres Werk im Kopf. Seltsamerweise handelt es sich gerade in diesem Praeludium um klaviertechnisch Kompliziertes, um Griffprobleme; wir stellen fest, daß er auch die potentielle Funktion der Hände im Kopf hatte".

Aus diesen wundersamen Fähigkeiten folgte jedoch nicht etwa, dass sich Mozart selbstbewusst als ein irgendwie höher stehendes menschliches Wesen begriff - vielmehr scheint er seine Arbeit nach Hildesheimers Darstellung zeitlebens als schlichte handwerkliche Brotarbeit verstanden zu haben, ohne je ernsthafte Gedanken an seinen möglichen kompositorischen Nachruhm zu verschwenden.

Hildesheimers daraus abgeleitete Opposition gegen die krampfhafte Verdrängung als 'fehlbar'' empfundener Aspekte eines solchen "Genie"-Lebens erinnert in ihrer Betonung der 'dunklen Seiten'' Mozarts auch stark an Arno Schmidts polemische Funk-Essays der 50er-Jahre, die u. a. dem prüden Kult um Adalbert Stifter kämpferisch entgegen traten. Wobei die materialgesättigte, mit vielerlei langen Original-Zitaten gespickte Form der Hildesheimer''schen Arbeit nicht zuletzt auch an Schmidts fulminante Psychoanalyse-Travestie "Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays" (1963) gemahnt - allerdings mit der Einschränkung, dass Hildesheimer die kindlich-obszönen Brief-Sprachspiele Mozarts nicht zum Anlass nimmt, sie selbst im Rahmen einer vulgär aufgeplusterten, am Ende gar denunziatorischen Pseudoanalyse aufzunehmen und kalauernd fortzuspinnen.

Doch in ihrer permanenten Argumentation gegen den 'Reinheitsfimmel'', der auch im Fall so mancher Mozart-Hagiografien der Nachkriegszeit mit der gesellschaftlichen Kontinuität nationalsozialistischer Ideologie zusammenhängen dürfte, sind Schmidt und Hildesheimer verwandt: "Für die Zweifel an dem Recht, ein Leben aufzudecken, selbst Schlafzimmergeheimnisse aufzustöbern, ist es heute zu spät, nachdem alles Geheimnis verfälschtes Allgemeingut geworden ist", wettert Hildesheimer. Mozart sei "Opfer jener Unwahrhaftigkeit, der Trivial-Autoren, der furchtbaren Vereinfacher, die mit der Verdrängung eigener Fehlbarkeiten beginnt und notwendigerweise mit der Zensur der Fehlbarkeit des Helden endet, sofern sie an ihm nicht gerade das rügen, was latent auch in ihnen steckt".

Gegen diese "pathische Projektion", wie sie der auch von Hildesheimer öfters zitierte Mozart-Kommentator Theodor W. Adorno zusammen mit Max Horkheimer in seiner "Dialektik der Aufklärung" (1948) im Blick auf antisemitische Vorurteile nannte, will der Autor das zum bloßen Kult-Denkmal erstarrte "Genie" in Schutz nehmen. Er muss es gewissermaßen - wie Adorno einst Bach - 'gegen seine Liebhaber verteidigen'': "Unter solchen Umständen dient das Nutzbarmachen allen verfügbaren Materials der Verteidigung des Betroffenen, auch dort, wo sie scheinbar 'Negatives'' enthüllt", erinnert Hildesheimer. "Ähnlich wie im Fall Beethoven hat unser Argwohn den Eiferern für die 'Reinheit'' zu gelten. […] Ihre Meinung, wie ein Mensch Mozart zu sein habe, hat uns nicht zu interessieren".

Hierher gehört auch Hildesheimers wackere Zertrümmerung der posthum vereinnahmenden Legende, Mozart habe sich in Städten wie Wien und Salzburg besonders heimisch gefühlt und sei von diesen tatsächlich ihm gegenüber feindselig und inspirationshemmend wirkenden Orten entscheidend geprägt worden. Gleich schon im Vorwort stellt der Autor klar, der Topos einer Wiener "Heimat von Meisterjahren" Mozarts, die ihren 'Sohn'' geradezu "umfangen" habe, sei nichts als "totale Besitzergreifung".

"Darin akklamiert auch Salzburg einen Teil, der ihm nicht gebührt", fährt Hildesheimer gnadenlos fort, und man fühlt sich unwillkürlich an Thomas Bernhards zeitgenössische Salzburg-Beschimpfungen in dem bis heute nur in einer zensierten Form greifbaren Werk "Die Ursache. Eine Andeutung" (1975) und dem Klaviervirtuosenroman "Der Untergeher" (1983) erinnert, wenn der Biograf bemerkt, Mozart habe diese Stadt "nun wirklich gehaßt […] und ihre Bewohner bekanntlich mit einem Vokabular bedacht, das an Verbalinjurien grenzt".

Auch im in Österreich pompös begangenen Mozartjahr dürfte demnach Gültigkeit behalten, was Hildesheimer bereits 1977 beobachtet hatte: "Darüber freilich hat Salzburg von je hinweggesehen und behauptet seinen ethnischen Anspruch, der ja immer dort herhalten muß, wo das Verhältnis harmonischer Beziehung zwischen Held und Heimat versagt."

Bei alledem darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Biograf in seinen Betrachtungen das Wichtigste vergessen habe. Auch musikalisch demonstriert Hildesheimer genaueste Werkkenntnisse und durchforstet das berühmte, 626 Werke auflistende "Köchelverzeichnis" von vorne bis hinten. Dabei fragt er sich immer wieder, wie Mozart es eigentlich geschafft habe, trotz seines kaum je überwundenen (ökonomischen) Zwangs, sich beim Komponieren formal strikt an das zu halten, was von den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit erwünscht und von seinen kirchlichen und weltlichen Auftraggebern gefordert wurde, so zeitlos schöne, insgeheim jedoch auch abgründige Musik zu erfinden.

Warum favorisierte Mozart, der bekanntlich meist in Dur komponierte, in seltenen Fällen die angebliche "Schicksalstonart" d-Moll? Und: Wieso kann bei ihm auch C-Dur traurig klingen? "Ist es tatsächlich ein Entscheid für das 'Tragische''?", fragt sich Hildesheimer. "Da wir keine Definition für ein musikalisches Äquivalent dessen haben, was wir in Worten das 'Tragische'' nennen, läßt sich die Frage nicht beantworten", entscheidet er kurz und knapp.

Wissend, dass alle Interpretationen bisher und auch seine eigene nichts als annähernde Spekulation sein können, vermutet der Autor darüber hinaus, dass hier vieles auch bei Mozart selbst unbewusst geschehen sei, genauso wie es dem heutigen Hörer letztendlich versagt bleiben müsse, das Rätsel dieser seltsam auratischen Musikstücke letztgültig zu lösen. Hildesheimer beobachtet, wie sich uns die Gestalt Mozarts entzieht, "indem sie sich hinter ihrer Musik verbirgt". Und auch diese Musik sei "uns, in ihrer tiefsten Bedeutung, unzugänglich, insofern sie keine außermusikalische Begrifflichkeit zuläßt".

Kurz vor seinem Tod, am 7. Juli 1791, schrieb Mozart noch an seine Frau Constanze, er könne ihr seine "Empfindung nicht erklären, es ist eine gewisse Leere - die mir halt wehe thut, - ein gewisses Sehnen, welches nie befriediget wird, folglich nie aufhört - immer fortdauert, ja von Tag zu Tag wächst…".

So gut gelaunt und frohsinnig, wie man die Musik dieses Komponisten seither auffasste, klingt das jedenfalls nicht. Vielleicht ein Grund mehr, morgens einmal wieder mit einem Glas Wein im Bett zu bleiben, um Mozart-Partituren kritisch zu studieren und dabei auf die restliche verschmockte Welt zu pfeifen - das besprochene Buch immer in Reichweite, versteht sich.


Titelbild

Wolfgang Hildesheimer: Mozart.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
424 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518221361

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