Muss man sich an Karl Hau erinnern?

Georg M. Oswald und Bernd Schroeder rekonstruieren das Misslingen eines Strafverfahrens

Von Joachim LinderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Linder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Hau wurde 1907 vor einem großherzoglich-badischen Schwurgericht wegen Mordes an seiner Schwiegermutter angeklagt und nach mehrtätiger Verhandlung zum Tod verurteilt. Das Urteil war seinerzeit hoch umstritten: Der Angeklagte hatte sich zum Tatvorwurf nicht geäußert, der Spruch der Geschworenen musste sich auf Indizien stützen und wurde zweifelsohne vom Leumund und vom Lebenswandel Haus beeinflusst. 1881 geboren, hatte Hau nach dem Abitur in Deutschland das Jurastudium begonnen, während eines Erholungsaufenthalts auf Korsika seine spätere Frau kennengelernt und war - nach einem Entführungsskandal - mit ihr in die USA ausgewandert, um dort sein Studium fortzusetzen und es alsbald zum Lehrbeauftragten an der George-Washington-University und zum Rechtsanwalt zu bringen. Hau schien am Beginn einer großen Karriere zu stehen.

Die Schwiegermutter umzubringen ist verwerflich und verboten, doch vollständig unverständlich ist eine solche Tat für die meisten Zeitgenossen nicht. Schon darum hat, wer wegen Schwiegermuttermordes angeklagt wird, schlechte Karten, die sich nicht verbessern, wenn ein erkleckliches Erbe in Aussicht steht, das Vermögen des Verdächtigen zerrüttet und die Beziehung zwischen Täter und Opfer vor der Tat problematisch war. Nimmt man all dies zusammen, dann lässt schon die Motivlage den Schwiegersohn als ,logischen' Täter erscheinen. Wenn der sich dann noch zur Tatzeit am Tatort zeigte, womöglich angetan mit einem falschen Bart und einer schlecht sitzenden Perücke, dann ist ihm endgültig nicht zu helfen, zumal auch noch die ,Flucht' in die USA kläglich scheiterte, so dass Hau kurz nach der Tat in London festgenommen und ans Großherzogtum Baden ausgeliefert werden konnte.

Hau stritt seine Täterschaft beharrlich ab und weigerte sich lange, Gründe für seinen Aufenthalt in Baden-Baden zu nennen. Nach deutschem Verfahrensrecht durften Angeklagte damals schon schweigen und waren in ihren Aussagen auch nicht zur Wahrheit verpflichtet. Da die Beweislast im Strafverfahren ganz und gar bei der Staatsanwaltschaft liegt, darf im Prinzip weder Schweigen noch Lügen zum Nachteil des Angeklagten ausgelegt werden. Doch gleichzeitig verbessert er mit einem - wie es heißt - ,ehrlichen Geständnis' seine prozessuale Lage, denn damit zeigt er Einsicht und Reue und kann gegebenenfalls um die Höchststrafe herumkommen. Offenkundig präsentierte sich Hau nicht so, dass ihm diese Wohltat zuteil wurde; er wurde jedoch zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe ,begnadigt', von der er bis zur Entlassung 17 Jahre auf Bewährung im Zuchthaus von Bruchsal abzusitzen hatte: Bruchsal war 1848 nach angelsächsischen Vorbildern als Reformanstalt eingerichtet worden, die auf strenge Isolation der Häftlinge setzte. Es ist kein geringes Verdienst des Romans von Schroeder, dass er die Freiheitsstrafe (am Beispiel des Häftlings Hau) als Körperstrafe sinnfällig macht.

Der Fall Hau hat seinerzeit mehr als die übliche Aufmerksamkeit erregt; je nach politischer Couleur glaubte man im Angeklagten einen hochstaplerischen und/oder degenerierten Mörder oder ein Justizopfer zu erkennen. Im Verfahren bescheinigten Karl Hoche (für die Anklage) und Gustav Aschaffenburg (für die Verteidigung) seine Zurechnungsfähigkeit, in der Öffentlichkeit äußerte sich die Prominenz der populären ;kriminologischen' Gerichtsberichterstattung. Hugo Friedländer, Erich Sello, Erich Wulffen und Paul Lindau nahmen in Artikeln und später veröffentlichten Fallgeschichten für und gegen Hau Stellung. Und Hau selbst publizierte nach seiner Entlassung zwei Bücher über sein Verfahren und seinen Zuchthausaufenthalt, die 1925 noch einmal dafür sorgten, dass sein Fall nicht in Vergessenheit geriet.

Exemplarisch am Fall Hau ist das Misslingen des Strafverfahrens. Die Funktion des Verfahrens und speziell der öffentlichen Hauptverhandlung besteht ja in der Hauptsache darin, Legitimation und Akzeptanz für das Urteil herzustellen, und zwar sowohl bei den unmittelbar Beteiligten als auch in der Öffentlichkeit. Das Verbrechen wird im Verfahren durch eine spezifische Inszenierung vergegenwärtigt, repräsentiert und verarbeitet: "Jede Gesellschaft, wenn sie dem grauenhaften Verbrechen begegnet, muß dieses Verbrechen noch einmal symbolisch, vermittelt durch Prozeduren und deren Regeln durchleben. Das Verbrechen muß vermenschlicht und als Übertretung dargestellt werden, damit ihm ein Platz in der Sprache gegeben werden kann" (Pierre Legendre). Das heißt nicht, dass über das einmal gefällte Urteil kritiklose Einigkeit bestehen muss, aber der Eindruck, dass die Justiz alles getan hat, was in ihrer Macht steht, scheint unverzichtbar für das Gelingen der Verarbeitung, die für die Selbststabilisierung der Gesellschaft sorgt. Und die Gefahr des Misslingens wird um so größer, je mehr sich einzelne Rollenträger von der Aussicht auf das antreiben lassen, was heutzutage als Celebrity das knappe Gut der Ökonomie der Aufmerksamkeit bezeichnet.

Man kann die Verantwortung für das Misslingen des Verfahrens dem Angeklagten zuschieben, der sich der ihm zufallenden Rolle auffällig verweigerte. Georg M. Oswald hat diesen Aspekt aufgegriffen, indem er den Fall Hau in das München der 1990er-Jahre transponierte und ihn auf einen einzigen Schauplatz reduzierte, nämlich einen Verhörraum im Polizeipräsidium. Hier redet sich ein junger, präpotent auftretender Jurist wenn schon nicht um Kopf und Kragen, so doch von der Liste ernstzunehmender Menschen und macht sich damit zum Repräsentanten derer, die er wortreich verachtet. Oswald hat damit eines der zahlreichen ,Bilder' (,Verbrecherbilder'), die von Hau im Umlauf waren, aufgegriffen und in einen Gegenwartstext umgesetzt: Falls Hau vorgehabt hatte, im eigenen Verfahren als unschlagbarer Jurist aufzutreten, so war dies von vornherein ein Missverständnis - im Hinblick auf das Verfahren selbst und auf die es beobachtende Öffentlichkeit. Doch hatte dieses Missverständnis einen literarischen Hintergrund in den Memoiren des Hochstaplers Georges Manolescu, die bei ihrem Erscheinen 1906 nicht weniger Aufsehen erregten als der Fall Hau im Jahr darauf.

Wenn Oswalds Text von den Projektionen zehrt, die im und um das Verfahren Hau wirksam wurden, so wird Schroeders Roman vom Misslingen des Verfahrens angetrieben, für das derartige Projektionen eine große Rolle spielten. Der Text bewegt sich abwechselnd auf verschiedenen Zeit- und Ereignisebenen, so dass der Leser Einzelheiten über Karriere und Ehe Haus bis zum Mord (von 1901 bis 1906) erfährt, ebenso über das Strafverfahren von der Verhaftung bis zum Urteil im Juli 1907 und über den Zuchthausaufenthalt bis zur bedingten Freilassung 1924, schließlich auch über die letzten beiden Jahre im Leben Haus, in denen er sich als Schriftsteller versuchte und kurzlebigen Erfolg mit den Berichten über sein Verfahren und seine Gefangenschaft hatte - bis zu seinem Tod im Jahr 1926, der in den zeitgenössischen Medien als Suizid gemeldet wurde.

Die erzählerische Organisation bildet bei Schroeder den Fall ab, wie man ihn sich in den Akten der Ermittler, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts vorstellen muss, unterschiedliche Textsorten werden montiert (Bericht, Protokoll, szenische Vergegenwärtigung, Tagebucheinträge und Briefzitate), die sich niemals zu einer linearen Geschichte zusammenfügen. Das narrative Schema des Kriminalfalls (Vorgeschichte, Verbrechen, Ermittlung und Urteil) wird verweigert zugunsten der fragmentarischen Wirklichkeitskonstruktion der Akten, die je nach Vorgang zwischen verschiedenen Zeit- und Ereignisebenen hin und her springt, ohne dass sich Sicherheit über die jeweiligen Relevanz- und Deutungsgesichtspunkte einstellen kann. (Dafür ist im Strafverfahren schließlich der kohärente Text des Urteils zuständig.)

Schroeders Text eliminiert die Erzählinstanz, die dem Leser den ,roten Faden' für diese Fragmente an die Hand geben könnte. Statt dessen wird systematisch Unsicherheit produziert - etwa wo der Text von Zitaten aus den Akten zur Fiktion übergeht oder überzugehen scheint (was freilich im Einzelnen zu überprüfen wäre). In die Lücken der Aktenwirklichkeit dringen Projektionen ein und beanspruchen deren Wahrheitsstatus: Beispielsweise wenn wiederholt und von verschiedenen Seiten mit stets gleicher moralischer Empörung kolportiert wird, Hau habe sich, während seine Frau in Washington mit knappen Mitteln haushalten musste, stets und ausgerechnet zwei Prostituierte in die Zimmer seiner erstklassigen Hotels kommen lassen.

Bedingungen für die Möglichkeit des Misslingens eines Strafverfahrens werden so sichtbar. Weil der Angeklagte eine konsistente Selbstdarstellung verweigert, öffnet sich schon das Verfahren (wie hinterher die Texte) den Projektionen und den Bildern, die man in Justiz und Öffentlichkeit für Verbrecher und Verbrechen bereithält. Es geht nicht mehr um Schuld oder Unschuld und um die Wahrheit der Justiz, sondern um Deutungskonkurrenzen, die prinzipiell unabschließbar sind. Deshalb produziert der Fall Hau auch heute noch Literatur. Man muss sich an Karl Hau nicht erinnern, aber die Erinnerung an ihn, das zeigen Oswald und Schroeder auf je eigene Art, kann unterhaltsam und belehrend sein. Was will man mehr von einem historischen Kriminalfall?


Titelbild

Georg M. Oswald: Lichtenbergs Fall. Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2005.
160 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3499240491

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Titelbild

Bernd Schroeder: Hau. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
364 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446207562

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