I.10.2 Ästhetik

Leseprobe

Von Ingo StöckmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingo Stöckmann

10.2 Ästhetik

10.2.1 Ästhetik: Begriff und Entstehung

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Spielarten des Ästhetik-Begriffs: Konzepte des Ästhetischen

Systematisch lassen sich mehrere Konzepte des Ästhetischen unterscheiden:

1. Ästhetik als ›Aisthetik‹ im Sinne einer »allgemeinen Wahrnehmungslehre«, die die elementaren Erfahrungen der sinnlichen Wahrnehmung auf Natur und Politik, Alltag und Ökologie, Mode, Werbung und Design ausdehnt. Die seit den 1990er Jahren proklamierte »Aktualität des Ästhetischen« (Welsch 1993a) zielt dabei auf eine doppelte Diagnose: zum einen auf eine unübersehbar gewordene Ästhetisierung des Lebens, die tief in den zur ›Erlebniswelt‹ verwandelten Alltag eindringt, zum anderen auf eine »Tiefenästhetisierung« (Welsch 1993b, 17), der in der Gestaltung der modernen Produktkultur oder der medialen Konstitution der Wirklichkeit ein geradezu unhintergehbarer Status zuwächst, weil sie erst die materialen und epistemologischen Bedingungen dessen bestimmt, was gemeinhin unter ›der‹ Realität verstanden wird.

2. Ästhetik als Naturästhetik bzw. ökologische Ästhetik, die auf eine grundsätzliche Revision des menschlichen Verhältnisses zur Natur zielt. Sie lenkt deren ›naturtheoretisch‹ sensibilisierte Wahrnehmung entweder in eine Nachbildung jener »Bedingungen der Erhaltung und der Entfaltung des Lebens«, wie sie die Natur ›von sich aus‹ vorgibt, oder reflektiert Verhaltensalternativen, die sich nicht länger auf eine zur ›Ausbeutung‹ fehlentwi- ckelten Naturbeherrschung richten. ›Naturethisch‹ gewendet, handelt es sich in vielen Entwürfen der Naturästhetik um eine Anknüpfung an Konzepte des ›Naturschönen‹, wie sie in der Tradition der philosophischen Ästhetik etwa bei Kant, Hegel oder Theodor W. Adorno als unterschiedlich gewichtige Seitenstücke zu Konzepten des ›Kunstschönen‹ präsent sind.

3. Ästhetik als Medienästhetik, die sich aus den gegenüber textuellen Speicherformen (›Literatur‹) grundsätzlich gewandelten Aufzeichnungs- und Repräsentationstechniken der neuen audiovisuellen Medien wie Fernsehen und Internet herleitet. Medienästhetik fokussiert in einer konstitutiven Mehrdeutigkeit des Medien- und des Ästhetikbegriffs recht unterschiedliche Phänomene, darunter etwa die Beziehungen zwischen den traditionellen Künsten und den technischen Medien oder die Wahrnehmungsveränderungen, die sich im Gefolge der wachsenden Medialisierung der Realität einstellen. Hinsichtlich des letztgenannten Aspekts korrespondiert Medienästhetik häufig mit einer Ästhetik der ›Simulation‹, nach der ›das Reale‹ vollständig im geschlossenen Zeichenraum medialer Bild- und Informationswelten geschwunden ist (vgl. Jung 1995, 229–241).

4. Ästhetik als Rezeptionsästhetik in dem allgemeinen Sinne, dass die Beschreibung ästhetischer Sachverhalte auch den Blick für die Prozesse der Aufnahme und sinnhaften Verarbeitung von Dingen oder Zeichen zu schärfen hat, die sich der Wahrnehmung in besonderer Weise darbieten. Zu den Grundimpulsen der Rezeptionsästhetik, wie sie seit den 1960er Jahren ausgearbeitet wurde, zählt die Ablehnung eines sinnhaft geschlossenen, ›autonomen‹ ästhetischen Objekts zugunsten einer komplementären Aufwertung des Rezipienten, der in der Interaktion mit dem ästhetischen Gebilde dessen Sinn allererst versteht, indem er ihn in einer bestimmten geschichtlichen Situation ›konkretisiert‹. Theoriegeschichtlich sind Rezeptionsästhetiken als Gegenreaktion zu formalistischen und strukturalistischen Ästhetiken entstanden, die allesamt von einer geschlossenen Sinnstruktur ästhetischer Werke ausgehen.

5. Ästhetik als Produktionsästhetik, die die zur Rezeptionsästhetik komplementäre, theoriegeschichtlich allerdings ältere Frage nach den gesell- schaftlichen, politischen oder auch psychischen Bedingungen der Entstehung und Herstellung von ästhetischen Werken stellt. Produktionsästhetiken folgen in aller Regel ausgeprägten empirischen Interessen und haben unter dem Einfluss von Marxismus und Ideologiekritik vor allem die These verfolgt, dass der Produktionsprozess ein unmittelbarer Reflex seiner historischen, ökonomischen oder politischen Entstehungsbedingungen ist. Zum Feld der Produktionsästhetik sind auch psychopathologische und psychoanalytische Theorien der Kreativität zu zählen. Sie betreiben im letzten Drittel des 19. Jh.s zunächst eine pathologisierende Neuinterpretation des Genies (Cesare Lombroso), nehmen den Kreativitätsbegriff im Gefolge Sigmund Freuds dann aber im Zeichen einer ›Sublimation‹ auf, die jede künstlerische Tätigkeit als einen primären, in ›Kulturarbeit‹ verschobenen (sexuellen) Triebimpuls versteht. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.