Ich sehe was, was du nicht siehst …

Das Farbenspiel ist meist gelungen, das Formenspiel nicht immer. Impressionen von der documenta 12

Von Marion MalinowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Malinowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

... und das ist rot

Der Mohn ist aufgegangen. In voller Pracht prangen die roten Blüten, vereinzelt dazwischengemogelt hellvioletter Schlafmohn, auf dem Kassler Friedrichsplatz. Die Symbolik der Pflanze ist vielschichtig. Aus aktuellem Anlass denkt man sofort an Afghanistan. Am Rande des von Sanja Ivekovic entworfenen Blumenfelds, vor dem Treppenaufgang zum Museum Fridericianum, spielt ein geschäftssinniger Gitarrist eingängige Melodien. Etwas entfernt versucht ein Klavierspieler, den Autolärm neben der vielbefahrenen Frankfurter Straße mit überbordenden süßlichen Geigensounds und flottem Geklimper zu übertönen. Seine Lautsprecher sind voll aufgedreht. In den Cafés an der Königstraße soll italienische Popmusik italienische Leichtigkeit evozieren. Auch eine Anden-Combo in Häuptlingsmontur ist angetreten und begeistert einen Pulk einkaufender Kasselaner mit Flötenmusik. Dazwischen ertönen allerdings manchmal auch noch einige für europäische Ohren plötzlich weit ungewohntere Klänge. Genau, das müssen die revolutionären afghanischen Lieder sein, die zu Ivekovics Kunstwerk gehören! Die Geräuschkulisse auf dem Platz ist so bunt und anarchisch vermengt, dass selbst ein Afghane den Text nicht verstehen würde.

Etwas weiter unten dreht sich das Karussell von Andreas Siekmann um das Denkmal Friedrich des II. Das nennt man wohl kritisches Bewusstsein im öffentlichen Raum: Vor und im Mohnfeld werden freudig die Digital-Kameras gezückt, während am Karussell selbst eher Ratlosigkeit die Gesichter kennzeichnet. Die Installation bewirke "als Bildträger eine pessimistische Infragestellung öffentlicher Prozesse wie auch eine bissige Spektakularisierung der Herrscherstatuen, die es umkreist", wird im documenta-Katalog erklärt. Sonderlich spektakulär wirkt das Ensemble glücklicherweise nicht. Die Bilder von Abschiebeszenen mit Dante-Symbolik sind wenig erhellend. Und allein "die Mächtigen da oben" für gesellschaftliche Exklusionsprozesse verantwortlich zu machen, ist nichts weiter als verkürzte Kapitalismuskritik à la Oskar Lafontaine. Dessen Partei bekommt in Umfragediagrammen derzeit die Farbe violett - etwas kräftiger als der Schlafmohn.

... und das ist weiß

Der White Cube hat sowieso ausgedient. Nicht nur die Alten Meister im Schloss Wilhelmshöhe hängen, der Wohnkultur des 16. und 17. Jahrhunderts entsprechend, an farbig gestrichenen Wänden. Auch in den übrigen documenta-Stätten wird weiß eher zu einer möglichen Hintergrundfarbe neben anderen. Vielleicht geht diese "Degradierung" einher mit einem hinterfragbar-wohligen "Cocooning"-Gefühl angesichts pastellfarbener Wände, zweifellos hat die vermeintlich neutrale Ästhetik des weißen Raums aber ihre Voraussetzungslosigkeit nicht nur verloren, sondern nie wirklich besessen. Ob allerdings silberne Vorhänge, wie sie im Aue-Pavillon hängen, eine gute Lösung sind, bleibt dahingestellt.

Zugleich konzentriert sich auch bei dieser documenta die Kunst in einigen "heiligen Hallen". Während die Besucher bei der documenta 11 noch im weißen angerosteten Mercedes zum Bataille-Monument in einer überwiegend von Migranten bewohnten Siedlung kutschiert wurden, so kann man sich diesmal beim Tram-Fahren ein fiktives Radioprogramm anhören, gelesen von Kassler Bürgern. Geschichten von Sasha und Julia auf Russisch oder vom Mörder, der nach 29 Jahren freikam, nach drei getrunkenen Bieren stürzte und sich leider das Genick brach. Am Bahnhof Wilhelmshöhe wird man dann in Anlehnung an Schiller mit dem Satz: "Alle Menschen werden Schwestern" verabschiedet - und erinnert sich zweifelnd an das Wassereis, das vor 5 Jahren verteilt wurde und in den Händen zerfloss. Die Versuche, die Kunst und die Kassler zu vereinen, gehen weiter. Mit durchwachsenem Erfolg.

Trotz oder wegen bunter Wände bleibt viel Raum für Assoziationen. An jedem Ausstellungsort findet sich mindestens ein weißes Bild - in unterschiedlichsten Schattierungen. Das halb aufgefaltete Blatt Papier von Charlotte Posenenske hängt eher unauffällig am Rand im Schloss Wilhelmshöhe. Wie die Flügel eines Engels breitet es sich aus, erstarrt, und unwillkürlich geht man sehr nahe heran. Denn vielleicht ist da ja doch etwas zu erkennen.

"Was weiß ich, was ich weiß! Ich weiß es nicht. Ich glaube, zweifle, hoffe, fürchte, schwebe", heißt es in Karl Kraus' Gedicht "Der sterbende Mensch", in dem Erinnerung, Zweifel und Witz wie in einer Theaterszene auftreten, nicht zu vergessen das Gewissen. Vor Posenenskes Blatt Papier können einem diese Zeilen in den Sinn kommen, wenn man zuvor im Museum Fridericianum war. Hier begrüßt der dazugehörende Engel die Besucher. Paul Klees "Angelus Novus" schwebt bedeutungsschwanger über der gesamten Ausstellung.

Walter Benjamin sah in ihm den Engel der Geschichte, der von der Vergangenheit fortgerissen wird. "Ursprung ist das Ziel", zitiert er einen Vers aus Kraus' Gedicht in seiner Schrift "Über den Begriff der Geschichte XIV" und schreibt: "Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet."

So eingestimmt folgt man den Klängen zu Trisha Browns unwiderstehlicher Tanz-Performance "Floor of the Forest". Tänzer steigen mühsam in zwischen Seilen gespannte T-Shirts und Hosen, vollführen trotz Gedränge unbeirrt eine Art meditative Tai-Chi-Übung, immer und immer wieder, atmen tief ein und finden durch die Wiederholungen und unabwägbaren Positionen im Netz tatsächlich den Zugang zum Publikum.

Jede Bewegung im Raum wird Teil der Performance, und wer achtlos am unscheinbaren Engel vorbeiging, wird spätestens an diesem Ort, den wohl kaum ein documenta-Besucher versäumt, wachsamer und in einem Zustand gespannter Aufmerksamkeit das Folgende erwarten.

... und das ist schwarz

Im Raum nebenan dominiert die Poesie. Gedichte hängen als Bilder mit Tiergestalten und Pflanzenzeichnungen im Großformat an den Wänden. Diese Antler Anthology I-XII "erinnert an Trophäen und erzählt doch auch vom Töten". Dazu Blutproben von Dichtern und die Mauern durchbrechende, ungewohnte Raumzonen besetzende Installation von Iole de Freitas, die man geduckt durchschreiten muss. Schutz vor Angriffen bietet die filigrane Arbeit nicht. Miniaturpanzer in einander gegenüberliegenden Ecken, einmal aus glänzender Bronze von Anatoli Osmolovsky, einmal aus Teig geformt von Zeng Guogo, wirken allerdings mit ihrer Spielzeuggröße wenig bedrohlich und können in dieser Konstellation als Hinweis auf die Macht der Sprache verstanden werden: Der Krieg beginnt im Kopf, und Worte werden zu Waffen.

Überhaupt, die Poesie: Die Kraft des Poetischen wird im Katalog wiederholt bemüht, Amar Kanwars Videoinstallation "The Lightning Testimonies" sei Teil seiner "poetische[n] Meditationen über die Funktionsweisen von Macht, Recht, Sexualität und Gewalt", heißt es da beispielsweise, und Inigo Mangalano-Ovalles Installation "Phantom Truck The Radio" schaffe "ein poetisches Bewusstsein für die unsichtbaren Kräfte, die unsere heutige Welt bestimmen".

Das schwarze Radio Mangalano-Ovalles' steht in einem hohen, sonst leeren Raum mit Glasfenstern vom Boden bis zur Decke, die mit roter Folie beklebt wurden. Einfallendes Tageslicht taucht diesen Raum in ein seltsam leuchtendes Licht, unnatürlich und weich.

In Verbindung mit den sphärischen Geräuschen aus dem Radio führt dies bei manchen zu einer Art Fluchtreflex ins Dunkel nebenan, wo eine sehr reale Anlage für biologische Kampfstoffe steht. Ob sie funktionstüchtig ist oder nicht - man atmet unwillkürlich flacher, ein poetisches Bewusstsein will sich hingegen nicht einstellen.

Krieg ist allgegenwärtig bei dieser documenta, am quälendsten in der abgedunkelten Neuen Galerie. Sie scheint in weiten Teilen als Frauenraum gestaltet zu sein. Die Dunkelheit evoziert altbekannte Assoziationen an den Uterus, aber hier findet sich kaum ein friedlicher, geschützter Ort. In der Videoinstallation "The Lightning Testimonies" gibt Amar Kanwar weiblichen Vergewaltigungsopfern eine Stimme. Sheela Gowda zeigt "Kollateralschäden" aus Asche, die an Grabplatten erinnern und vor denen Besucher wie an der Essensausgabe eines Flüchtlingslagers Schlange stehen, während der Jugoslawienkrieg an der Wand schlangengleich mäandert. Eine ähnliche Raumgestaltung findet sich im Museum Fridericianum, aber dort tanzt in einem Film eine Frau im Schnee und verspricht Freiheit.

Geschlechterkriege, Kämpfe im eigenen Körper, Kolonisierung von Körpern, Gewalt, Schmerz und Erinnerung gehören zu den zentralen Themen der ausgestellten Kunstwerke. Insbesondere der Inderin Gowda gelingt es in beeindruckender Weise, gesellschaftliche Schlachtfelder sichtbar zu machen. "And Tell Him of My Pain" befiehlt sie in ihrer zweiten Installation und lässt drei blutrote Kordeln kreuz und quer von der Decke hängen, verschlingt sie am Fußboden und zeigt abgerissene, ausfransende Enden. Hier wagt kaum jemand durchzugehen, zu luftig-locker hängen die Kordeln, zu blutrot und beweglich erscheinen sie. Man könnte sich verheddern und am Ende legte sich gar eine Schlinge um den Hals.

... und das ist bunt

Ein pädagogischer Impetus zeigt sich insbesondere in den Wiederholungen. Beim Gang durch die Räume stellt sich nach kurzer Zeit ein freudiger Wiedererkennungseffekt ein, denn viele Künstler sind an mehreren Orten mit unterschiedlichen Arbeiten vertreten. Mit diesem einfachen Mittel erhält die documenta einen Rahmen. Selbst die immer wieder auftauchenden, ikearegalartigen buntlackierten Kanthölzer von John McCracken werden zu gern betrachteten, vertrauten Objekten. Dessen 70er-Jahre-psychedelische Tantra-Bilder aufgrund der schrillen Farben mit einer tadschikischen Hochzeitsdecke in Beziehung zu setzen, wie die Hängung nahelegt, scheint allerdings doch recht weit hergeholt. Ähnlich simpel wird mit der von Roger M. Buergel und Ruth Noack postulierten "Migration der Form" verfahren. Da bleibt nur, so manche Arbeit isoliert von den Kunstwerken in ihrer Umgebung zu betrachten, denn die Erkenntnis, dass ähnlich geschwungene Linien zu verschiedenen Zeiten in Kunstwerken unterschiedlicher Kulturen anzutreffen sind, ist weder sonderlich bemerkenswert noch trägt sie zu einem tieferen Verständnis bei.

Gelegenheit zu kontemplativer Versenkung in ein Werk findet man oft auf den zahlreich vorhandenen harten chinesischen Stühlen. Kein Stuhl gleicht dem anderen. Mit dem Wissen, dass sie mindestens 100 Jahre alt sind, streicht man über das Holz. Geschichte entsteht nach Benjamin in Jetztzeit, beispielsweise auf dem Weg zur Toilette vorbei an einer Postkarte mit einem Motiv von Manet, "Blick auf die Weltausstellung". Mit reichlich Abstand laden drei Stühle zum Verweilen vor der ansonsten leeren Vitrine ein. Im Katalogtext hierzu wird das Individuum erneut bequem entschuldigt: "Psychotische Strukturen bestimmen die Mächtigen, die Manager unseres Lebens. Unsere Weltkunstausstellungen geben ein Bild davon".


Titelbild

documenta 12 Catalogue.
Taschen Verlag, Köln 2007.
448 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783822816776

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch