Eine große feministische Schriftstellerin

Zum Gedenken an die Autorin Christa Reinig

Von Madeleine MartiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Madeleine Marti

"Ein Wort bewegt dies Ahornblatt / bis in die Wurzel meines Sterns. / zu wünschen wag ich nicht / noch Sprache einzubaun / in menschliche Belange." (aus: Schwalbe von Olevano, 1969)

Am 30. September ist die Schriftstellerin Christa Reinig im Alter von 82 Jahren in München gestorben. Sie hat fünfzig Jahre lang Prosa, Lyrik und Hörspiele publiziert. Von Mitte der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre hat sie ihre messerscharfe Satire und ihren schwarzen Humor thematisch mit dem Kampf der Frauenbewegung verbunden. Mit den Romanen "Entmannung" (1976) und "Die Frau im Brunnen" (1984) sowie den Essays "Der Wolf und die Witwen" (1980) hat sie feministische Erkenntnisse zu radikalen literarische Aussagen zugespitzt und immer wieder mit Metaphern und Pointen überrascht. Einige Gedichte zierten in den 1980er-Jahren auch Hauswände Zürich wie etwa "In diesem augenblick / sitzt eine frau irgendwo / denkt sich dinge aus / die wir gebrauchen können" (aus: Müssiggang ist aller Liebe Anfang, 1980)

Als ich als Studentin Christa Reinig 1982 in München für meine Lizentiatsarbeit interviewte, war ich gleichermassen fasziniert von ihrer klugen Präsenz wie ihrer liebevollen Gastfreundschaft. Sie stimmte auch einem Interview für die Zeitschrift "Lesbenfront" bereitwillig zu.

In einem Gespräch mit der Literaturprofessorin Marie Luise Gansberg zog Christa Reinig als 60-jährige Schriftstellerin Bilanz über ihr Leben und Werk: "Aber ich bin lesbische Schriftstellerin, so gut wie ich weibliche Schriftstellerin bin, das ist eine Entwicklung." Und: "Auch die Umwelt, auf die ich einwirken wollte und die mich geformt hat, verändert sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt so, als hätte ich von Zeit zu Zeit den Planeten gewechselt. Und vor allem: es änderten sich meine literarischen Kriterien." (1986)

Die Stationen ihres Lebens glichen tatsächlich Planetenwechseln: Im Osten Berlins als Tochter der Putzfrau Wilhelmine Reinig in der Weimarer Republik geboren, erlebte Reinig als Kind die Machtübernahme der Nazis und als 19-jährige die Zerschlagung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Nach dem Krieg arbeitete sie zunächst als Trümmerfrau und Fabrikarbeiterin, bis sie in den 1950er-Jahren in der DDR das Abitur nachholte, Kunstgeschichte studierte und als Assistentin am Märkischen Museum arbeitete. Zusammen mit ihrer Mutter lebte sie in Ost-Berlin, engagierte sich jedoch in einer "Gruppe Zukunftsachlicher Dichter" in West-Berlin. Nach dem Tod der Mutter nutzte Reinig den Empfang des Bremer Literaturpreis 1963 dazu, im Westen zu bleiben. Danach lebte in München, später auch ein Jahr in der Villa Massimo in Rom, wo sie gerne geblieben wäre.

In Reinigs ersten publizierten Erzählungen von 1949/51 erschien kühn ein Thema, das sie erst ein Vierteljahrhundert später wieder aufgriff, nämlich das Arbeiten und Leben von Frauen ohne Männer. Doch dann standen 25 Jahre lang Männer im Zentrum ihrer Texte. Erst dank und mit der Frauenbewegung wurde es Christa Reinig möglich, Frauen - auch Lesben - in ihrer Literatur zu darzustellen: Nachdem sie durch einen Treppensturz zur schwer behinderten Frührentnerin geworden war, schrieb Reinig den autobiografischen Roman "Die himmlische und die irdische Geometrie" (1975). Darin legte sie die männlichen Masken ab und entwickelte eine weibliche Erzählposition, aus der sie souverän über den Stoff verfügte und große Bögen in Raum und Zeit spannte. Ein Thema blieb jedoch auch hier ausgespart: die Liebe. Dies weil Christa Reinig für ihre lesbische Erfahrung noch keine Sprache fand.

Im Roman "Entmannung" (1976) entlarvte Reinig dann mittels Satire die patriarchalische Ideologie im Bewusstsein von Frauen und Männern. Drei Jahre später wagte sie - im Gedichtzyklus "Müssiggang ist aller Liebe Anfang"(1979) - lesbische Liebe in Form eines lyrischen Tagebuchs zum Ausdruck bringen. Von Mitte der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre, als Reinig sich zur Frauenbewegung zählte, war sie literarisch am produktivsten: drei Romane, zwei Erzählbände, ein Lyrikband sowie zahlreiche Artikel und Gedichte in feministischen Zeitschriften wurden publiziert. Vom Literaturbetrieb wurde Reinig jedoch als Folge ihrer feministischen Positionsbestimmung marginalisiert, ihre Texte weniger rezensiert oder mit Preisen ausgezeichnet. Christa Reinig zog sich Ende der 1980er-Jahre aus der Frauenbewegung zurück.

Danach publizierte sie noch weitere Erzählbände unterschiedlichen Inhalts. Nun erhielt sie drei Literaturpreise, welche ihr für ihre besten Werke versagt geblieben sind. Auch mit diesem Rückzug aus dem feministisch-lesbischen Engagement: Mit Christa Reinig ist eine große lesbische Schriftstellerin gestorben.

Literatur von Christa Reinig

Erzählungen

Eine Ruine 1949 und ein Fischerdorf 1951 in Anthologien der DDR
der traum meiner verkommenheit, Vietkau Verlag Berlin 1961
Drei Schiffe, Fischer Verlag 1965
Orion trat aus dem Haus, Eremitenpresse 1969
Das grosse Bechterew-Tantra, Eremitenpresse 1970
Hantipanti, Eremitenpresse 1972
Der Wolf und die Witwen, Eremiten Presse und Frauenoffensive 1980
Die ewige Schule, München: Frauenoffensive 1982

Gedichte

Die Steine von Finisterre, 1961
Gedichte, Frankfurt/M.: Fischer 1963
Schwabinger Marteln, Eremitenpresse 1969
Schwalbe von Olevano, Eremitenpresse 1969
Papantscha-Vielerlei, Eremitenpresse 1971
Die Ballade vom Blutigen Bomme, Eremitenpresse 1972
Müssiggang ist aller Liebe Anfang. Frauenoffensive 1979

Romane

Die himmlische und die irdische Geometrie, Eremiten Presse, 1975
Entmannung, Eremiten Presse, 1976
Die Frau im Brunnen, Frauenoffensive, 1984

Hörspiele

Kleine Chronik der Osterwoche, 1965y
Tenakeh,1965
Wisper, 1967
Das Aquarium, 1967

Literatur zu Christa Reinig

Gansberg, Marie Luise: "Erkennen, was die Rettung ist." Marie Luise Gansberg im Gespräch mit Christa Reinig. München: Frauenoffensive, 1986
Gansberg, Marie Luise: Christa Reinig "Müssiggang ist aller Liebe Anfang" (1979). Ästhetische Taktlosigkeit als weibliche Schreibstrategie. In: Stephan, Inge/Weigel, Sigrid/ Wilhelms, Kerstin (Hg.): "Wen kümmerts, wer spricht?" Köln/Wien 1991, S. 185-194
Marti, Madeleine: Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart: J.B.Metzler, 1992, S. 305-364