Wo bleibt der Vierte?

Barbara Agnese und Robert Pichl lassen renommierte ForscherInnen die Topografien der Künstlerpersönlichkeit Ingeborg Bachmann erörtern

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Barbara Agnese und Robert Pichl haben einige der renommiertesten Bachmann-ForscherInnen für ihre "[n]eue[n] Annäherungen" an das Werk der österreichischen Nachkriegsautorin gewinnen können. Unter ihnen etwa Hans Höller und Sara Lennox. Auch Gisela Brinker-Gabler ist vertreten. Sie ist zwar bislang weniger als Bachmann-Forscherin hervorgetreten. Doch dafür sind ihre Verdienste um die Wiedererinnerung oft zu unrecht vergessener deutschsprachiger Autorinnen nicht hoch genug zu schätzen. In dem vorliegenden, auf ein 2006 in Wien zu Ehren der Literatin abgehaltenem Symposium zurückgehenden Sammelband vergleicht sie "Gesetz und Sprache bei Bachmann und Agamben", die sich, wie die Autorin anmerkt, in Rom kennen gelernt hatten. Auch versäumt Brinker-Gabler es nicht darauf hinzuweisen, dass Agamben die Einleitung für die italienische Ausgabe von Bachmanns Gesprächen und Interviews verfasste. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht allerdings weniger das Sprachverständnis des italienischen Philosophen, als vielmehr zum einen Bachmanns Beschäftigung mit der Sprache "als Macht, Gewalt, als Ausnahmezustand schlechthin", und zum anderen der dem weiblichen Ich des Romans "Malina" in den Mund gelegte Topos der Sprache als Strafe, den Angaben "nicht von ungefähr" wiederholt zitiert habe.

In weiteren Beiträgen werden die Prinzessinnen-Figuren bei Bachmann und Elfriede Jelinek verglichen (Neva Šlibar) oder auf überzeugende Weise die "Hypothese" vertreten, dass den "verschiedenen Bedeutungen" des von Bachmann in Lyrik und erzählerischem Werk mehrfach verwendeten Ausdrucks des Zugrunde Gehens "verschiedene Poetiken entsprechen" (Marie Luise Wandruszka). Françoise Rétif wirft die Frage auf, ob Bachmanns Denken nicht "dadurch ausgezeichnet" sei, "dass sie jeweils jeden Gedanken, jedes Denken bis an die Grenze führt, wo er/es an seine Grenzen rührend sich von selbst auflöst", und Luigi Reitani macht sich in einem luziden Text über "Heimat im Werk Ingeborg Bachmanns" für die These stark, "dass die ganze poetische Topographie Ingeborg Bachmanns auf einer Dialektik zwischen Heimat und Exil beruht, die auch eine Projektion der Kindheit als utopischer Zustand mit einschließt".

Mindestens ebenso erhellend sind Hans Höllers Ausführungen über "Sprache und Ich als Elemente einer kritischen Kulturwissenschaft" in Ingeborg Bachmanns Werk. Überzeugend kritisiert er die in Sigrid Weigels Bachmann-Biografie "Unter Wahrung des Briefgeheimnisses" wiederholt benutzte "Redefigur der 'Vorwegnahme' theoretischer Positionen" in den literarischen Werken der österreichischen Autorin und misst die zugrunde liegende "Konstruktion" an Bachmanns eigenen literaturtheoretischen Darlegungen. Eine "akademische Lektüre" wie die von Weigel vorgelegte, lautet seine überzeugende Kritik, grenze das Verständnis der interpretierten Werke auf "die jeweils herrschenden akademischen Diskurse" ein und bestätige sich selbst "die Verfügungsmacht sowohl über die theoretischen als auch über die literarischen Diskurse". Dabei verweigere sich Bachmann in den "Frankfurter Vorlesungen" gerade einem solchen "Typus der akademischen Literaturwissenschaft".

Plausibel ist auch der von Höller vorgeschlagene "Blickwechsel". Statt Bachmanns Werke (oder, so könnte man hinzufügen, die beliebiger anderer AutorInnen) als "Vorwegnahme späterer theoretischer Positionen" zu interpretieren und den "Ort" ihres Schreibens "in der bloßen Vorwegnahme aktueller oder schon wieder außer Kurs gesetzter kulturwissenschaftlicher Paradigmen" zu sehen, sei es sinnvoller, sich ihrer Literatur als "rettende[m] Eingedenken der sprachanalytischen und psychoanalytischen Moderne nach 1945" zu nähern und sie als "Weiterführung und kritische Weiterentwicklung der Tradition der Moderne" aufzufassen, um so "zu einem weiteren Verständnis dieser Moderne selber zu gelangen".

Weigels seit ihrem Erscheinen vor zehn Jahren maßgebliche Bachmann-Biografie erfährt mit Höllers Beitrag nicht nur eine ernstzunehmende Kritik, sondern dürfte zudem bald ernsthafte Konkurrenz bekommen. Das lässt zumindest der Beitrag von Andrea Stoll erwarten, die ebenfalls ein solches Projekt in Angriff genommen hat. In dem vorliegenden Band stellt sie "einige Gedanken" vor, die sie bei ihrer Arbeit an einer demnächst erscheinenden Bachmann-Biografie bewegen. Forschung und Lesepublikum werden der Arbeit mit Spannung entgegensehen - nicht nur, weil es die erste forschungsrelevante Biografie seit der Weigels sein dürfte, sondern auch, weil die Geschwister Ingeborg Bachmanns Stoll anders als Weigel Einsicht in Nachlass-Dokumente einschließlich des Briefwechsels Ingeborg Bachmanns mit Bruder und Schwester gewährte. Wollte Weigels Biografie unter Aufnahme eines Bachmann'schen Topos deren Briefgeheimnis so weit wie möglich wahren, überlegt Stoll, ob eine solche Arbeit überhaupt "zugleich diskret und wahrhaftig" sein könne.

Gleich zwei Beiträge wenden sich mit Bachmanns "Drei Wege zum See" einer Erzählung zu, in der die geografische Topografie eine zentrale Rolle spielt. Sie beschließt den letzten Erzählband Bachmanns "Simultan". Sara Lennox zufolge wendet sich Bachmann sowohl in "Drei Wege zum See" als auch in der dem Band den Titel stiftenden Erzählung "den Problemen nach 1968" zu. Zugleich moniert sie, die Literaturwissenschaft habe bislang noch keinen "[t]heoretischen Rahmen" für die Auseinandersetzung mit den Erzählungen des Buches gefunden. Diesen möchte sie unter Rückgriff auf den "renommierten polnisch-britisch-jüdischen Soziologen" Zygmunt Bauman bereitstellen.

Mitherausgeber Pichl sucht hingegen einen musikalischen Zugang zu der Erzählung und bedient sich dabei des "Kontrapunkts", um zu erhellen, welche "strukturelle[n] Phänomene" Bachmanns "Komposition" der "Erzählstruktur" zugrunde liegen. "[H]euristischer Ausgangspunkt" seines Unternehmens bildet ein "dreistimmiger polyphoner Tonsatz". Wie Pichl darlegt, seien die "Strukturelemente des Textes einer triadischen Gliederung unterworfen". So gäbe es drei Wege, auf denen die Protagonistin Elisabeth Matrei zum Wörthersee zu gelangen versucht, drei Städte, "in denen sich ihre Persönlichkeit entwickelte (Klagenfurth, Wien, Paris), drei Männer, die im Zuge ihrer Suche nach Selbstverwirklichung eine wesentliche Rolle spielten (den Vater, Franz-Josef Trotta und Branco Trotta), drei andere Männer, die als unredliche Personen oder Schwächlinge ihre Entwicklung eher hemmten (Manes, Hugh, Philippe)", und schließlich "drei Frauen mit dem Namen Elisabeth (neben der Hauptfigur deren Schwägerin Liz und ihre frühere Bekannte Elisabeth Mihailovics)".

All dies kann der Autor nachweisen und somit seine These plausibel vertreten. Dennoch könnte man seine Ausführungen vielleicht durch den Hinweis auf ein weiteres Ordnungsprinzip ergänzen, das mit diesem triadischen korrespondiert und für das eine beiläufige Bemerkung in der Erzählung sensibilisiert. Elisabeth, Hugh und sein "boy" seien "sehr oft zu dritt, aber nie zu viert" beisammen gewesen, heißt es nicht ganz zur Mitte der Erzählung. Das erinnert an eine der zahlreichen Sokratischen Fragen. "Eins, zwei, drei - wo aber bleibt uns denn der Vierte", fragt der Mäeutiker zu Beginn von Platons Dialog "Timaios". Ein bewusster intertextueller Bezug Bachmanns liegt nahe, zumal die Literatin auch eine promovierte Philosophin war.

Reinhard Brandt hat vor annähernd zwanzig Jahren in seinem Buch "D'Artagnan und die Urteilstafel" (1991) ein von der Antike an bis in zwanzigste Jahrhundert in Europa obwaltendes Ordnungsschema herausgearbeitet. "Dieses Muster", erläutert Brandt, "hat die simple Form einer in sich abgeschlossenen Dreiheit von Elementen, zu denen eine vierte Größe hinzutritt; die Trias also ist vollständig, sie bedarf jedoch einer weiteren Komponente, sei es nun als ihres Fundaments, sei es als ihrer Verknüpfung mit der Wirklichkeit, als eines Impulses der Bewegung oder aus einem anderen Grund". Zu den unzähligen Beispielen, die Brandt für sein von ihm auf die "einfache Formel" 1, 2, 3 / 4 gebrachtes Ordnungsschema anführt, gehören etwa die platonischen Kardinaltugenden "Mäßigung, Tapferkeit, Klugheit / Gerechtigkeit", das logische Instrumentarium "Begriff, Urteil, Schluß / Methodenlehre", die vier ursprünglichen universitären Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin / Philosophie) und die auf Kant zurückgehende Rassenlehre "Schwarze, Gelbe, Rote Völker / der weiße Mann".

Nicht nur Platon, sondern offenbar auch Bachmanns Erzählung arbeitet mit dem Ordnungsprinzhip. Liest man "Drei Wege zum See" als Liebesgeschichte, genauer gesagt als Erzählung über die Unmöglichkeit der Liebe, oder noch genauer gesagt als Erzählung darüber, dass die Möglichkeitsbedingung der Liebe ihre Nichtverwirklichung ist, so tritt Brandts Ordnungsschema auch hier zutage. Bachmann bedient sich einer bestimmten topografischen Metaphorik, bei welcher der See für die wahre Liebe beziehungsweise für die geglückte Liebesbeziehung steht, die drei nicht zielführenden Wege stehen für die der Protagonistin auf relevante Weise verbundenen Männer oder auch für die drei verschiedenen Arten von Elisabeths Liebesbeziehungen, wobei die je unterschiedlichen Konstellationen einander überschneidenden. Da sind auf einer ersten Ebene ihre drei großen Lieben (Franz-Josef Trotta, Hugh und Manes), auf einer zweiten Ebene ihre drei tatsächlich vollzogenen zentralen sexuellen Beziehungen (Trotta, Manes, Philippe) und auf der dritten Ebene drei innige (Liebes-)Beziehungen nichtsexueller Art (ihr Vater, ihr Bruder und Hugh). Die drei Ebenen bilden somit selbst die vierte der je drei in ihnen enthaltenen Möglichkeiten.

Zudem scheinen mit den drei Ebenen die (relevanten) Liebesmöglichkeiten ausgeschöpft. Sie alle sind weder erfüllte Lieben noch entsprechen sie dem Liebesideal der wahren Liebe, so wie die drei Wege nicht zum See führen. Nun gibt es allerdings sowohl einen vierten Weg zum See, über den Elisabeth im Bus das Gewässer denn schließlich auch erreicht, um dort zu baden, wie auch einen vierten Mann, der sich auf jeder der genannten drei Ebenen zu den drei Männern gesellen lässt: Branco. Sie beide, vierter Weg und vierter Mann, korrespondieren miteinander und beschließen die je in sich schon vollständige Triaden. Der Weg, indem er es ist, der zum See führt, Branco, indem er als unerfüllte Liebe das Liebesideal der wahren Liebe verkörpert. Nur zweimal wird in der Erzählung Liebe erklärt. Einmal ruft Elisabeth ihrem Vater "I love you" zu, während sie im See schwimmen. Da sie es auf englisch ruft, versteht er sie allerdings nicht, und auf seine Nachfrage reagiert sie ausweichend. Das andere Mal fallen die Worte, als Elisabeth nach Brancos Abreise einen Zettel in ihrer Manteltasche findet, den er ihr beim Abschied heimlich zugesteckt hat. "Ich liebe Sie", steht darauf. Es ist dieses doppelte - einmal unverstandene, einmal zu späte 'Ich liebe Dich', das Branco und den See verbindet.

"Nur die wirklichen Dinge, die geschehen gar nie oder zu spät", lautet eine zentrale Stelle in Bachmanns Erzählung. Und wirklich, weil nicht geschehen, ist die Liebe zu Branco, dessen Liebesgeständnis zu spät kommt. Dass die wirkliche, die wahre Liebe 'nicht geschieht', also nicht gelebt wird, ist ihr aber nicht etwa akzidentiell, sondern ihre Möglichkeitsbedingung. Ein Schluss, der zumindest nahe liegt.


Titelbild

Barbara Agnese / Robert Pichl (Hg.): Topographien einer Künstlerpersönlichkeit. Neue Annäherungen an das Werk Ingeborg Bachmanns.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
205 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826037115

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