Flucht und Verfolgung

Insa Meinen schildert die Shoah in Belgien

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jean Améry, der Schriftsteller und Publizist, der Maler Felix Nussbaum und Paul Spiegel, der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, gehörten zu den (geschätzt) 25.000 deutschen Juden, die in den Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aus dem deutschen Reichsgebiet nach Belgien geflüchtet sind. Ihre Schicksale nach dem 10. Mai 1940, dem Tag, an dem die Deutsche Wehrmacht in das neutrale Nachbarland einfiel, repräsentieren in etwa die Varianten des Loses, das die Juden in Belgien in der kommenden Zeit der Verfolgung zu gewärtigen hatten.

Améry, 1912 in Wien geboren und nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 emigriert, zählte vermutlich zu den „unerwünschten Ausländern“, welche die belgische Regierung im Zusammenhang mit der deutschen Invasion nach Frankreich abschob. Hier gelang ihm 1941 die Flucht aus dem südfranzösischen Lager Gurs. Er kehrte nach Belgien zurück und schloss sich dem Widerstand an. Am 23. Juli 1943 bei einer Flugblattaktion verhaftet, wurde er in das von der deutschen Militärverwaltung eingerichtete Konzentrationslager Breendonk gebracht, wo er die Folter erlitt, die er später in „Die Tortur“ beschrieben hat. Von dort wurde er nach Auschwitz deportiert, von da nach Buchenwald und Bergen-Belsen. Nach 1945 lebte er in Brüssel, gezeichnet von jener „existenziellen Gleichgewichtsstörung“, die er sich selbst attestierte. In einem Salzburger Hotel nahm er sich 1978 das Leben.

Auch Felix Nussbaum, 1904 in Osnabrück geboren, seit 1935 in Belgien lebend, geriet in die belgische Abschiebeaktion vom Mai 1940, auch er wurde in Südfrankreich interniert, konnte ebenfalls von dort fliehen und war im Dezember wieder in Brüssel, wo er sich in das Judenregister der Stadt eintragen ließ. Spätestens mit dem Beginn der Deportationen Mitte 1942 muss er wie viele andere Juden mit seiner Frau untergetaucht sein, bis sie beide am 20. Juni 1944 aufgrund einer Denunziation verhaftet und mit dem letzten Transport, der das Sammellager Malines (Mechelen) am 31. Juli 1944 verließ, nach Auschwitz gebracht wurden. Hier fand Nussbaum am 2. August den Tod, seine Frau wahrscheinlich auch.

Anders Paul Spiegel, geboren 1937 im westfälischen Warendorf. Als Kind flüchtete er mit seinen Eltern 1939 nach Brüssel und überlebte im Versteck bei einer flämischen Bauernfamilie. Seine Schwester fiel in Brüssel den Verfolgern in die Hände und kam um, während sein Vater Auschwitz, Buchenwald und Dachau überlebte.

Festnahme und Verhaftung, Gegenwehr durch Flucht, Untergrund, Widerstand, Hilfe aus der Bevölkerung, Unterstützung und Rettung, aber auch Verrat, Denunziation und Kollaboration durch Freiwillige belgischer SS-Einheiten und Nazi-Gesinnungsgenossen kennzeichnen die Umstände der „Menschenjagd“, die Insa Meinen in dieser ersten deutschsprachigen Darstellung der Shoah in Belgien beschreibt. Ihr fielen mindestens 24.906 Menschen, darunter 4.081 Kinder unter 15 Jahren, zum Opfer; nur 1.207 von ihnen überlebten die Deportation nach Osten in das Lager Auschwitz (die Präzision dieser Zahlen verdankt sich penibel geführten Listen im SS-geführten Lager Malines).

Seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war Belgien in Bezug auf Juden ein Einwanderungsland. Der belgische Staat hat erst nach Kriegsende namentliche Erhebungen über die Anwesenheit von Juden auf seinem Territorium im Frühjahr 1940 vorgenommen. Er kam auf die Zahl 65.000, die aber mit mancherlei Ungewissheiten behaftet ist. Verlässlicher, aber ebenso wenig vollständig, scheint die überlieferte „Judenkartei“ der Brüsseler Filiale des Reichssicherheitshauptamtes zu sein, der so genannten Sipo-SD (Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst). Sie beruht auf der auf Geheiß der deutschen Militärverwaltung vorgenommenen Registrierung der Juden – natürlich nach deutschen, also nationalsozialistischen Definitionskriterien – durch die belgischen Kommunen und enthält die Namen von 56.186 Frauen und Männern. Weniger als 7 Prozent von ihnen besaßen die belgische Staatsangehörigkeit, die überwiegende Mehrheit waren Immigranten aus Ostmitteleuropa, vor allem aus Polen seit dem späten 19. Jahrhundert, und eben aus Deutschland seit 1933 respektive 1938/39, die sich vor allem in den großen Städten Antwerpen und Brüssel niedergelassen hatten. Die Deportationen ab Anfang August 1942 erfassten zunächst die ausländischen Juden, ab September 1943, auf direkten Befehl Himmlers, auch die Juden mit belgischer Staatsangehörigkeit. Die Namen aller Shoah-Opfer, die aus Belgien in den Tod geschafft wurden, finden sich, in Granit gemeißelt, in einer Gedenkstätte in Brüssel verzeichnet.

Meinens Darstellung baut weitgehend auf vorangegangenen belgischen Forschungen auf, führt aber auch eine Reihe neuer, durch eigene Recherchen gestützte Gesichtspunkte ins Feld. In allen von Deutschland besetzten Ländern ist das Kapitel der Mitwirkung einheimischer Behörden und Landsleute an den deutschen Verbrechen gegenüber den Juden nicht selten schmerzvoller Selbstbefragung ausgesetzt. So auch in Belgien, so dass auch Meinen eines ihrer Hauptaugenmerke auf den Anteil der belgischen Behörden und Polizeiorgane an der Jagd auf die Juden richtet; ein Fünftel der Opfer, so veranschlagt sie, ist mit ihrer Hilfe zu Tode gekommen. Die Frage erhält ihre landeseigene Spezifik aus der von der belgischen Forschung herausgearbeiteten Tatsache, dass in der flämischen Hafenstadt Antwerpen 65 Prozent der registrierten Juden verhaftet, verschleppt und in den Tod geschickt wurden, in der belgischen Hauptstadt Brüssel hingegen nur 37 Prozent. Meinen bezweifelt sowohl diese Zahlen wie die herrschende Meinung, dieses Ungleichgewicht sei auf die größere Kooperationsbereitschaft der Antwerpener Verwaltung und Polizei zurückzuführen, wenn sie auch nicht übersieht, dass in dieser Hinsicht zwischen Brüssel und Antwerpen durchaus Unterschiede bestanden, was sich insbesondere in der ersten Verfolgungsphase von August bis Oktober 1942 zeigte, als 17 von insgesamt 27 Transporten mit 16.624 Personen Malines verließen.

Die Anfangsphase der Festnahmen und Deportationen zeichnete sich vor allem durch Großaktionen aus: Massenhafte Ausstellung von „Arbeitseinsatzbefehlen“ und groß angelegte Razzien, davon allein vier in Antwerpen unter Mitwirkung der städtischen Polizei (Absperrungen), eine davon sogar in eigener Regie (wenn auch unter starkem deutschen Druck), während in Brüssel nur eine einzige Razzia ohne belgische Polizeihilfe stattfand, ebenso in Lüttich. Doch büßte diese Methode rasch an Wirksamkeit ein, denn die Juden, viele von ihnen fluchterfahren, reagierten umgehend: Sie legten den Judenstern ab und verschwanden im Untergrund oder versuchten, in das unbesetzte Frankreich zu fliehen, sie wechselten die Wohnung, besonders die Schlafstellen, legten sich falsche Ausweispapiere zu und entwichen, sofern den Häschern in Antwerpen entgangen, in den Großraum Brüssel, so dass sich von 1942 zu 1943 das Verhältnis der aus beiden Städten deportierten Juden umdrehte. Den Verfolgern blieb nichts, als ihre Methoden zu ändern. Ab Herbst 1942 verlegten sie sich auf die Verhaftung von einzelnen oder Kleingruppen, und so bis zum Schluss.

Stützt die geläufige Ansicht die These vom negativen Übergewicht Antwerpens gegenüber Brüssel nicht zuletzt auf die Antwerpener Razzienpraxis, so richtet Meinen den Fokus auf die individuelle und kleinteilige Festnahmepraxis und weist anhand der Zahlen nach, dass ihr die Mehrheit der Verhafteten und Deportierten zum Opfer fiel. Bei dieser Verhaftungsart jedoch waren die belgischen Behörden nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, beteiligt, während eine Vielzahl von deutschen Besatzungsorganen eifrig engagiert war: Außer Gestapo und Feldgendarmerie besonders das Devisenschutzkommando, das Grenzwachtregiment Clüver und der deutsche Zollgrenzschutz, deren Verfolgungswut und -effektivität Meinen anhand zahlreicher Beispiele nachweist.

Neuland betritt die Verfasserin nach eigenem Bekunden überdies mit biografischen Recherchen zu dem Transport XXI vom 31. Juli 1943, mit 1.552 Deportierten einer der größten (und versäumt nicht zu erwähnen, dass in den Monaten zuvor keine Massenverhaftungen vorgekommen waren). Hier geht es ihr vor allem um den Nachweis, dass nicht nur die ‚Davongekommenen‘ durch eigene Gegenwehr oder fremde Hilfe dem Schicksal entgangen waren, sondern dass auch die Deportierten selbst vielfach, wenn auch letztlich gescheiterte, Anstrengungen zur eigenen Rettung unternommen hatten, nämlich annähernd die Hälfte (754 Personen), davon wiederum 532 allein durch Flucht aus Deutschland ab 1932 (430) und den Niederlanden 1942/43 (102) sowie sogar 69 aus früheren Transporten. Insgesamt rechnet sie den 754 Personen 1.068 Gegenwehrhandlungen zu, so 92 falsche Ausweise, 174 Leben im Versteck und 20 Beteiligungen an der Résistance.

Dass der Brüsseler Abgesandte Himmlers formal dem Militärbefehlshaber für Belgien (und Nordfrankreich) von Falkenhausen und dessen Verwaltungschef Reeder unterstand, nutzt Meinen wiederholt, um der Wehrmacht die Verantwortung für die Shoah in Belgien zuzuschreiben. Sie kommt allerdings nicht umhin, die Provenienz der Befehle zur „Endlösung“ aus dem Berliner Reichssicherheitshauptamt zuzugestehen und auch, dass die Militärverwaltung unter Reeder in mancherlei Hinsicht mäßigend wirkte. Sie mag recht haben damit, dass das Militär in erster Linie um eine möglichst reibungslose Besatzungspolitik bemüht war, hauptsächlich besorgt, alles zu vermeiden, was den belgischen Volkszorn erregen konnte. Immerhin ließ die belgische Militärjustiz, die 1950/51 über von Falkenhausen und Reeder zu Gericht saß, die beiden mit Urteilen zu zwölf Jahren Zwangsarbeit und kurz darauf mit Abschiebung nach Deutschland davonkommen.

Das Buch konzentriert sich auf den im Titel bezeichneten Gegenstand und erörtert zum Beispiel den belgischen Widerstand wie die Hilfe aus der belgischen Bevölkerung für die Verfolgten nur am Rande. Deshalb sei hier am Schluss der von Meinen denn doch erwähnte Lütticher Rechtsanwalt Max-Albert Van den Berg genannt, der auf Veranlassung des Lütticher Bischofs und als Leiter einer katholischen Ferienkolonie ein Netzwerk aufbaute, das Juden falsche Pässe vermittelte und mindestens 257 Kinder versteckte und dadurch rettete. Ein Wehrmachtsgericht verurteilte ihn zu einer fünfmonatigen Haftstrafe, danach wurde er deportiert und kam im Konzentrationslager Neuengamme zu Tode.

Ein sachkundiges, taktvolles Buch, das an der deutschen Schuld und Verantwortung für das Geschehen in dem Nachbarland nicht den geringsten Zweifel lässt.

Titelbild

Insa Meinen: Die Shoah in Belgien.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2009.
255 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783534221585

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