Geschmackssache

Selbstprofilierung im Internet durch Literaturkritik

Von Simone SchwalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Schwalm

Sie sprießen wie Pilze aus dem Boden: Rezensionen von Laien- und Profi-Kritikern werden online in Massen geboten. Dabei fällen die Verfasser dieser Kritiken nicht nur Urteile über Literatur. Auch Musik, abendliche Ausgeh-Angebote, Mobilfunkgeräte und Waschmaschinen werden in Hinblick auf ihre Massentauglichkeit „rezensiert“. Dem Markt der Waren steht ein Markt der Meinungen zur Seite. Zahllose Foren, Blogs, soziale Netzwerke und Online-Händler bieten die Möglichkeit, Miss- oder Gefallen aller Welt mitzuteilen und gegebenenfalls Kaufentscheidungen mit zu beeinflussen.

In Bezug auf den literarischen Markt gestaltet sich dies mindestens ebenso vielfältig und zunächst unübersichtlich wie in allen anderen Bereichen. Doch vor dem Zeitalter des Internets wurden kaum Verbrauchermeinungen über Waschmaschinen oder ähnliches publiziert. Die Literaturkritik dient nun als Vorbild für die Bewertung anderer Produkte. Dabei wird der Begriff der „Rezension“ aus dem Bereich des Buch-Betriebs auf andere Bereiche übertragen, vor allem durch das Online-Versandhaus Amazon.

Literaturkritik im Internet

Literaturkritik weist eine lange Tradition auf. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich jene Art der Buchbesprechungen, die als Vorläufer der gegenwärtigen Rezensionen in den Feuilletons angesehen werden kann. Das neue Medium Internet ermöglichte eine weitere Entwicklung: Das Verfassen von literaturkritischen Rezensionen ist nicht mehr nur professionellen Kritikern vorbehalten. Neben den literaturkritisch profilierten Printmedien, die ihre Rezensionen mittlerweile meist auch online veröffentlichen, melden sich zunehmend die so genannten ‚Laienkritiker‘ zu Wort. Nicht nur Online-Buchhandlungen locken ihre Kunden zur Meinungskundgabe, etwa mit kostenlosen Leseexemplaren vor offiziellem Erscheinungstermin wie beispielsweise auf www.vorablesen.de oder der Vergabe eines Titels wie ‚Top-Rezensent‘ bei Amazon. Vor allem Einzel- und Sammelblogs sowie Rezensionsforen, die im Stil journalistischer Magazine gestaltet sind, entsprechen einem grenzenlosen Mitteilungsbedürfnis über persönliche Abneigung oder Begeisterung.

Dies scheint auf den ersten Blick nicht sonderlich problematisch – schließlich ist eine demokratische Meinungsvielfalt positiv konnotiert. Doch wer fundierte Kritiken sucht, sieht aufgrund dieses Wustes aus Bewertungslust und (Selbst-)Darstellungsehrgeiz den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Die Vielzahl der urteilenden Menschen ist ebenso unüberschaubar wie die Menge an gedruckten Werken, die meist knapp in den Buchkritik-Foren abgehandelt werden. Während das Publizieren im Internet noch vor rund 15 Jahren eine Beschäftigung einiger weniger darstellte, ist es heute keine Ausnahmeerscheinung mehr.

Auch Cornelie Müller-Gödecke, ausgebildete Lehrerin, die für eine Software-Firma Webseiten gestaltet, gehört zu ihnen. Sie war bereits „fast von Anfang an dabei“ und vertritt auf einer ihrer Webseiten, www.avantart.de, die Ansicht, dass bei den massenhaften Hompages und Internetauftritten „allzuoft die Qualität auf der Strecke geblieben“ sei oder „Inhalte fehlen“ und hofft, dass dagegen ihre Seiten „Berechtigung“ haben. Neben ihren Meinungsäußerungen zu Aspekten des alltäglichen Lebens in ihren Blogs findet sich auch Literaturkritisches, mit deren Veröffentlichungen sie 2003 begann. Auf lesen.avantart.com präsentiert Müller-Gödecke „ganz private Lese-Erlebnisse“, „Kritik am literarischen Alltag“, rezensiert Werke, von denen „abzuraten“ ist, und verfasst „Buch-Empfehlungen“. Dagegen finden sich auf buchbestattung.de nur kritische Töne. Hier schreibt sie „über verunglückte Bücher, verunglückte Leser, schlechte Bücher, schlechtes Marketing“ und ihr „Unbehagen an der ‚Buchkultur‘ überhaupt“. Auf weiteren Seiten, die sie als Homepage, Blogs oder Webseiten ins Internet stellt, beschäftigt sie sich mit Kunst, Kultur, Sprachen, Reisen und Politik.

Neben ihr seien noch einige weitere Beispiele genannt für Privatpersonen, die im Internet ihre Meinung, unter anderem zu Büchern, publizieren. Sie sind keine extremen Ausnahmeerscheinungen in den Weiten des Netzes und gleichzeitig auch keine ‚exemplarischen Fälle‘. Doch sie sind repräsentativ für einen bestimmten Typus von ‚Internet-Usern‘, die nicht nur selbst nach Informationen und Bewertungen suchen, sondern ihre Meinung durch Online-Veröffentlichungen selbst kundtun. Dabei geht es häufig nicht um ein ganz bestimmtes Ziel, sondern um schlichtes Mitteilungsbedürfnis, das sie mit ihrer Meinung über gelesene Bücher zum Ausdruck bringen, wie etwa Martin Weiß auf seinem Blog www.buch-ratschlag.de. Dies ist sein einziger Internetauftritt. Auch auf dem Blog diestrickendeleseratte.blogspot.com einer gewissen Yvonne, von der man nicht mehr erfährt als ihren Vornamen sowie etwas über ihre Freude am Lesen und Stricken, gibt es wie bei Weiß keine Verlinkungen zu weiteren Seiten der Verfasser. Ihre Persönlichkeiten treten hinter ihren Buchbesprechungen zurück. Dies scheint die Regel zu sein.

Immer häufiger finden sich dagegen auch Internetauftritte einzelner Personen, die einen hohen Grad an Selbstprofilierungstendenzen aufweisen und ansonsten ohne klar erkennbare Zielsetzung sind. Obwohl ihre Anzahl geringer zu sein scheint als die derjenigen, die nur mit einer oder zwei Seiten im Netz vertreten sind, lassen sie sich nicht mehr als Ausnahmeerscheinungen beschreiben. Sie repräsentieren längst einen weiteren Typus der Online-Darsteller, die zu jenen Mitteilungslüsternen gehören, die sich selbst als Experten bezeichnen und auf ihren Seiten versuchen, literaturinteressierte Leser von einer angeblichen Professionalität zu überzeugen. Sie besitzen meist eine eigene Homepage, mehrere Blogs und beteiligen sich rege am Meinungsaustausch mit anderen Bücher-Besprechern. All die Seiten, auf denen sie sich präsentieren, verweisen aufeinander und sind untereinander verlinkt. Im Folgenden wird diese Art der gehäuften Internetpräsenz am Beispiel zweier Herren genauer unter die Lupe genommen, besonders im Hinblick auf ihre literaturkritischen Veröffentlichungen, die sie für ihre Selbstdarstellung zu funktionalisieren scheinen.

‚Beispielhafte‘ Internetpräsenz?!

Da gibt es beispielsweise Dr. Marius Fränzel, einen promovierten Literaturwissenschaftler. Auf Nachfrage hin betont er, kein Laie, aber auch kein Literaturkritiker zu sein. Er sei „ein Leser, der über seine Lektüre schreibt“, die sowohl Neuerscheinungen als auch längst kanonisierte Werke umfasst. Die Buchbesprechungen des 49-Jährigen finden sich vor allem auf seinen eigenen Blogs. bonaventura.musagetes.de etwa besteht seit 2005 und enthält mehr als 400 Beiträge, unter anderem Kritiken zu Kategorien wie „Belletristik“, „Bildbänden“, „Bilderbüchern“, „Comics“ sowie „Hör- und Sachbüchern“. Der Blog begleitet Fränzels eigene, private Lektüre, die „auch schlechte Bücher“ einbeziehe, Verrisse sind jedoch in der Minderzahl.

Auf dieser Seite stehen auch so genannte „Shortlists“. Eine trägt den vielversprechenden Titel „10 Bücher, über die Sie beruhigt mitreden können, ohne sie gelesen zu haben“. Im Blick auf Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ glaubt Fränzel zu wissen: Dieses Buch habe von den anderen auch keiner gelesen. Der Literaturwissenschaftler rät: „Sagen Sie: In dem Fall liegt Reich-Ranicki aber mal daneben!“ Zu Herman Melvilles „Moby-Dick“ erteilt Fränzel seinen Lesern den Rat, „diesen Übersetzer-Streit, den es da mal gegeben hat“, zu erwähnen. An dieser Stelle sei die Frage gestattet, inwieweit sich derartige ‚Tipps‘ mit Fränzels eigenem literaturwissenschaftlichem Anspruch vereinbaren lassen. Oder soll dies einfach nur witzig sein? Möglicherweise als Ironie mit Ansätzen zur Kulturkritik, gegen jene Laienkritik gerichtet, von der oben die Rede war? Dann müsste Fränzel diese Ironie jedoch deutlicher beziehungsweise eindeutiger machen.

Ähnlich undurchsichtig ist der Internetauftritt Oliver Gassners, der sein Studium der Germanistik und Anglistik „mit dem Magister sowie dem 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien“ abschloss. Auf seiner Homepage oliver-gassner.de beschreibt er sich selbst als Autor, Journalist und Trainer und weist eine noch höhere Internetpräsenz als Fränzel auf. Trainieren will er beispielsweise Autoren für die Blog-Erstellung, wofür er auf buecherbrett.org Anleitung gibt. Daneben ist er an diversen Literaturforen beteiligt, widmet sich allerdings im Gegensatz zu den vergangenen Jahren inzwischen zunehmend administrativen Aufgaben, anstatt selbst zu kritisieren. Eine der wenigen Ausnahmen ist hier zu finden: www.youtube.com. In flapsig-spontaner Manier bespricht Gassner hier „5 Bücher in 10 Minuten“, hantiert wild und ziellos mit dem Buch in seiner Hand herum und amüsiert sich prächtig über seinen eigenen Humor. Da fragt man sich: Stellt sich diese Art der Laienkritik bewusst selbst zur Schau? Karikiert sie das, was sie selbst vielleicht nicht sein will? Immerhin arbeitete Gassner viele Jahre als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Kunst, Literatur und Kulturpolitik für regionale Printmedien im Bodenseeraum und ist aktuell in den Bereichen PR, Marketing, Social Media, kultureller Organisation sowie digitales Arbeiten tätig. Man könnte annehmen, dass er weiß, was er tut, und sich seine professionelle Selbstdarstellung auf Seiten wie www.carpe.com, www.carpelibrum.de und literaturwelt.de nicht durch fragwürdige Präsentationen selbst zunichte machen will. Vielleicht gehört das dazu, wenn man im Netz eine möglichst breite Leserschaft ansprechen will. Doch wünscht sich diese wirklich Masse statt Klasse?

Fränzels Internetauftritte sind überschaubarer. Auf seinem Blog goethe.musagetes.de bedient der Literaturwissenschaftler seine Leser vor allem mit Verrissen über (literatur-)wissenschaftliche Sekundärliteratur zu Johann Wolfgang von Goethe. Die ‚Fliegenden Goethe-Blätter‘ erscheinen in unregelmäßigen Abständen und seien „höchst subjektive Überlegungen, Kritiken, Betrachtungen und Anmerkungen“. Doch Fränzel veröffentlicht nicht nur auf Seiten, die er selbst ins Netz gestellt hat. Bei www.stabiso.de handelt es sich um eine Seite, die auf Kooperation mit der Stadtbibliothek Solingen und der Solinger Morgenpost (Rheinische Post) basiert. Fränzel veröffentlicht hier wöchentlich einen Beitrag, seine literarischen Auseinandersetzungen sind nur Empfehlungen. Sehr selten beteiligt er sich auch an blog.literaturwelt.de, einem gemeinsamen Weblog verschiedener Blogger. Eine Zeit lang schrieb er zudem für buch.germanblogs.de und erhielt dafür nach eigener Aussage sogar ein Honorar, doch „seit die nicht mehr bezahlen, bediene ich diese Seite auch nicht mehr“.

Mit dieser so ganz ‚un-literaturkritischen‘ Art der Literaturkritik versucht Fränzel aus gutem Grund nicht (mehr), Geld zu verdienen. Denn das Rezensenten-Dasein im Netz ist, mehr noch als in den Printmedien, eine unlukrative Tätigkeit. Doch zur Selbstprofilierung und Förderung des eigenen professionellen Status scheint sich die Literaturkritik auch im Internet zu lohnen. Durch diverse Verlinkungen von eigenen Seiten, Vernetzungen und Empfehlungen der ‚User‘ untereinander bilden sich kleinere und größere Fangemeinden von ‚Bloggern‘, die ganz im twitter-Stil ihren Vorbildern als ‚Follower‘ folgen und ihre Meinungen als glaubwürdig sowie in kommerzieller Hinsicht einflussreich einschätzen. Als ‚Bonaventura‘ – in Anlehnung an das Verfasser-Pseudonym des Romans „Nachtwachen“ – twittert auch der Solinger Freiberufler und hat bereits 111 ‚Follower‘. Fränzels Selbstdarstellung im Internet hilft ihm als Freiberufler jedoch nur bedingt. Zumindest könne er aber durch seine Online-Präsentationen einen kompetenten Umgang mit Blog- beziehungsweise CMS-Software demonstrieren. Der Literaturwissenschaftler gestaltet Webseiten, unterrichtet Literatur im Bereich der Erwachsenenbildung, hält Vorträge über Literatur oder rezitiert ‚Klassiker‘ wie Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich Heine, Gustave Flaubert, Christian Morgenstern, Rainer Maria Rilke und Theodor Fontane.

Ähnlich finanziert sich auch Oliver Gassner. Als Webmaster designt er Homepages, leitet Kurse für Kreatives Schreiben an Schulen und an der Volkshochschule, ist in der Werbung und im Marketing tätig und unterrichtet als Universitätsdozent Business English. Da haben wir sie wieder: die Masse. Angesichts dieser Masse an beruflichen Standbeinen muss man sich fragen, ob diese Selbstdarstellung noch realistisch ist. Kann sich ein einzelner Mensch mit so vielen Dingen zugleich auf anspruchsvollem Niveau beschäftigen? Aber vielleicht sollte man diese Frage nicht stellen und stattdessen eher auf die ernüchternde Situation eines Freiberuflers blicken, der all diese Tätigkeiten braucht, um finanziell überleben zu können. Auf Nachfrage, auch hinsichtlich der Funktion seiner zahlreichen Internetauftritte, reagierte Gassner nicht.

Fränzel wiederum scheint sich selbst nicht ganz im Klaren darüber zu sein, was er mit seinen Internetauftritten, besonders den literaturkritischen, bezweckt – jedenfalls konnte oder wollte er darauf keine Antwort geben. Der Namen seiner Homepage allerdings lässt Schlüsse auf Fränzels Motivation zu, über seine Lektüre zu schreiben. Er erklärt deren Namen – www.musagetes.de – mit einem Hinweis auf die griechische Mythologie: Musagetes ist der Beiname Apollons als ‚Führer der Musen‘. Vielleicht will er ja seine Leser durch das unüberschaubare Feld der Literatur führen und ihnen dabei professionell zur Seite stehen – unter anderem eben mit Ratschlägen, wie man über Bücher sprechen kann, ohne sie dabei lesen zu müssen. Vielleicht verfolgt Fränzel mit seinen Publikationen allerdings doch kein so hehres Ziel – schließlich „interessiert ihn auch nicht“, welchen Stellenwert Literaturkritik im Netz hat. Zur Frage der Selbstprofilierung im Internet über Literaturkritik auf sozialen Netzwerken und Blogs hat der Literaturwissenschaftler ebenso keine Meinung. Und fügt sich damit in die Reihe derer ein, die ihre Meinung zu jeglicher Art von Literatur im Netz abgeben – ohne zu wissen, warum. Frei nach dem Motto: „Wer schreibt, der bleibt.“

Cornelie Müller-Gödecke dagegen begründet ganz eindeutig die Vielzahl ihrer Webseiten und Blogs. Nach eigenen Angaben nutzt sie die Möglichkeiten des Internets, „um der Musik und der Kunst im Allgemeinen ein Forum zu schaffen, das nicht nach Marktanteilen schielen muss“. Die über 50-Jährige, die ihr genaues Alter nicht verraten möchte, schreibt online, „um nicht immer um Veröffentlichung betteln zu müssen“, und „aus Neugier um die technischen Mittel, die das Internet so bietet“.

Bleibt noch die Frage, welches Urteil man sich über diese Art von Buchbesprechungen bilden sollte. Literatur scheint bei einigen Selbstprofilierungs-Versuchen jedenfalls nicht mehr im Vordergrund zu stehen. Sie dient viel mehr häufig nur noch der Selbstdarstellung der jeweiligen Rezensenten. Das Medium Internet wird unter dem Etikett ‚Literaturkritik‘ damit auch zur unreflektierten Profilierung genutzt. So verhält es sich mit diesen hervorsprießenden Beurteilungen wohl wie mit Pilzen: Sie sind eben Geschmackssache.