Krieg um Präsenz

Ernst Wünschs tragikomische Erzählung „Sprizz bitter“ handelt von zwei Außenseitern, einem Hund und dem aktionistischen Puppentheater

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach „6345 Arbeitstage[n]“ macht Smut plötzlich die Erfahrung, dass auch ein „humanistische[r] Maturaabschluss“, ein „Europäische[r] Computerführerschein“ und der Vorzug, in „knapp unter drei Minuten“ Filterkaffee zubereiten zu können, keine Garantie gegen Arbeitslosigkeit sind. Zwei Jahre vergeblichen Versuchens, als Teilzeitschreibkraft unterzukommen, bewirken, dass man ihn schließlich zur Gruppe der „LZA 50 plus“ zählt. Er ernährt sich „von Billigprodukten aus Diskontläden“ und stopft „seine löchrigen Socken und Unterhosen“ selbst.

Auch sein großer Traum, „vom Gedichteschreiben leben zu können“, ist trotz 40-Jähriger Erfahrung „als Hobby-Dichter“ und dem Wissen: Schriftsteller, die nicht saufen, werden „bestenfalls in der Kirchenzeitung oder im Reader’s Digest abgedruckt“, nicht unbedingt greifbarer geworden. Um auf eine im „Ausgangsbereich eines Supermarktes“ hängende Stellenanzeige zu reagieren, in der ein „zuverlässiger Heizer, geübt im Umgang mit Hunden und der deutschen Rechtschreibung“ gesucht wird, reicht sein Selbstwertgefühl aber gerade noch.

Dass er vom 93-Jährigen Anatol Desiderius Korg als „Gesellschafter, Privatsekretär, Haushaltsmanager, Hundesitter, Maniküre, vor allem aber [als] geduldiges Publikum“ engagiert wird, verdankt Smut dann allerdings anderen Kriterien, und zwar, dass ihm dessen „Jack-Russel-Terrier“ Castor zugeht und er „Sprizz bitter“ anzumischen versteht. Und doch geht es bei diesem „Multifunktionsjob“ eigentlich primär darum, „Korgs Selbstgespräche [zu] dokumentieren“.

Diese im Buch als ‚Protokoll‘ und ‚Exkurs‘ gekennzeichneten  Erzählpassagen enthüllen eine recht abenteuerliche Biografie, die 1915 „im Schatten des Höllengebirges“ beginnt und sich in jungen Jahren bereits dem Puppentheater zuwendet. Doch folgt Korg weder dem konventionellen Verständnis, noch hält er viel von angepassten Verhaltensweisen und muss, weil er den „arischen Kunstsinn“ beleidigt, vor den Nationalsozialisten fliehen. Dafür, dass er „Stücke mit öbszönem Inhalt zur Aufführung“ bringt, braucht er in den demokratischeren Zeiten der 1960er-Jahre zwar nicht mehr um sein Leben bangen, „Probleme mit der Polizei“ bleiben ihm aber nicht erspart.

Ursache ist die im Rahmen des „k & w actionistischen Kasperltheaters“ mit O. U. Wysznarsz entwickelte so genannte „Verdauungstrilogie“. Als Bühne dient hier „das überdimensionale Innere eines Magens“, der einem „Alkoholiker im Endstadium“ gehört. Ihm wird „gleichsam als Henkersmahlzeit […] 1 Liter 80%iger Inländerrum […], 4 Liter Bier, […] ein Fiakergulasch mit enormen Salzgurken, Spiegeleiern, Brotlaiben und einer ganzen Batterie von Semmelknödeln“ zugeführt, ehe „in Gestalt eines norwegischen Riesenhummers“ das Magenkarzinom auftritt und sich „das Kasperltheater Richtung Publikum“ erbricht, was eine „Speihwanne“ abzumildern versucht, aber nicht verhindern kann, dass die „zu nah am Geschehen“ Sitzenden „angespritzt“ werden.

Das passiert bei der Premiere „im internationalen Studentenheim Döbling“ genauso wie bei Aufführungen „in Linz, Graz & verschiedenen Wiener locations“ und hat zur Folge, dass „die Verdauungstrilogie mit einem unbestimmten Aufführungsverbot […] belegt“ wird.

Begünstigt durch die Hinterlassenschaft seiner Mutter verbringt Korg anschließend „mehrere Jahre“ auf La Gomera und erwirbt danach vom Erlös des Palazzos seines früheren Kompagnons Wysznarsz ein „vorstädtisches Fiakergehöft“, wo er den Pferdestall in einen Theatersaal umfunktioniert.

Nachdem eine im Rahmen der Retrospektive „Verworfene Avantgarde der 70er“ im Theater „Im Achterloch“ geplante Neuinszenierung durch Subventionsbetrug ausfällt, will er nun die „Verdauungstrilogie“ im eigenen „Pferdestalltheater“, das er „seit fast zehn Jahren“ nicht mehr betreten hat, realisieren und nach dem Vorbild des Salzburger „Jedermann“ jedes Jahr „am 21. Februar“ aufführen; als wolle er sämtliche Wucherungen „seines bisherigen Unnötigkeitsgefühls“ ein für allemal beseitigen und beweisen, dass nicht nur jene Erfolg haben, die tun, „was denen gefällt, die ekelhaft sind“, sondern auch die, welche angeblich Produkte anbieten, „die niemanden interessieren“.

Neben Smut unterstützen ihn „Exkellertheaterdiva“ Zoe und Theaterwissenschaftlerin My Aurora Sahl, die in ihrer Diplomarbeit „Experimentelles Theater in Wien Ende des 20. Jahrhunderts“ das zweite Kapitel „Korg und seine[n] Zeitgenossen“ widmet.

Die theatergeschichtliche Komponente ist es auch, welche den autobiografischen Hintergrund der Erzählung fassen lässt. Denn es gibt tatsächlich eine mit „Kisserwünsches aktionistisches Kasperltheater. Ein Experiment in der österreichischen Puppentheaterlandschaft“ überschriebene Diplomarbeit von Maria Mangott, die verdeutlicht, wie weit diese Erzählung in die Lebenswirklichkeit ihres Autors hineinreicht: Zwei Jahre lang arbeitet Ernst Wünsch an der Puppenbühne des Theaters der Jugend in Wien, ehe er 1973 mit Rupert Kisser das „Kisserwünsche aktionistische Kasperltheater“ gründet. Eines von drei Stücken ihres Repertoires, in denen die beiden Künstler, die sich später „Gruppe Zuckerstuhl“ nennen, Elemente aus dem Wiener Aktionismus, aus Jérôme Savarys „Le Grand Magic Circus“ und Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ auf das Puppentheater übertragen, ist die „Verdauungstrilogie“.

Sie, die zweifellos „etwas subtil Sensibles“ verkörpert, wie der im dritten von fünf Kapiteln erstmalig in Erscheinung tretende, namenlos bleibende Erzähler der Geschichte festhält, spielt auch in „Sprizz bitter“ eine tragende Rolle und ist letztlich dafür verantwortlich, dass Korg über „Kurzberichte“ in der Tagespresse und  Subventionszusagen der Stadt Wien doch noch die verdiente Anerkennung erhält, welche zum Teil auch auf Smut übergeht, den Korg „offiziell“ adoptiert und der im Zuge dessen seinen Status als Langzeitarbeitsloser beenden und die Zahlungen an den Nachhilfelehrer seiner Tochter einstellen kann.

Dieser ist eigentlich Schriftsteller und ein häufiger Begleiter von Castor und Smut, von dem er (und darum ist seine Nachhilfe ja „extrem billig“) jene Informationen bekommt, die es ihm ermöglichen, „diesen Roman überhaupt“ zu schreiben, der realiter zur Erzählung gerät; was nichts daran ändert, dass die drei Alter Egos von Ernst Wünsch, der vor kurzem seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, im gegenseitigen Wechselspiel voneinander profitieren. Und das ist jedem einzelnen von ihnen zu gönnen; besonders Smut, der einem – angesichts dessen, „was Korg, AMS & Schicksal ihm“ abverlangen – ohnehin leid tun kann.

Geprägt „von Enttäuschungen & Desastern“ erweist sich aber nicht nur sein Leben, sondern auch das von Korg, der „in Wirklichkeit ein Großmeister der Niederlage ist“. Selbst sieht er jedoch „all seine Flops als Erfolg“. Allerdings lässt sich nichts von dem, was man gemeinhin als Karriere betrachtet, an ihm festmachen. Wo er nämlich „Leistung wahrnimmt“, ist bei näherer Betrachtung „nichts anderes als der nichtsnutzige Müßiggang eines schrulligen Privatiers“ auszumachen: „Fast ein Jahrhundert lang [hat Korg] fürs Theater gelebt & keiner kennt ihn“, was schon ein wenig traurig und daher schleunigst zu ändern ist, weil: ein sympathischer Privatier ist er in jedem Fall.

Mindestens genauso sympathisch sind aber auch Hund Castor und der geruchsempfindliche Smut, einschließlich der gesellschaftskritischen Handlung des Buches, das „Haushundehaltung“ als Maßnahme zur Verhinderung von Amokläufen sowie „Narzismus, Arschkriecherei, Unverschämtheit & Skrupellosigkeit“ als probates Mittel im vom „Krieg um Präsenz & Subventionen“ dominierten Kunstbetrieb ausweist und dem Typus des scheinbar karriereresistenten Verlierers ein ironisch fein gesponnenes, erzähltechnisch innovativ und abwechslungsreich gestaltetes, sprachlich witziges, sachlich genaues, bitter-spritziges Denkmal setzt.

Man sollte es sich gönnen!

Titelbild

Ernst Wünsch: Sprizz bitter. Erzählung.
Sisyphus Verlag, Klagenfurt 2009.
155 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783901960499

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