„Ich war Freuds Apostel, er war mein Christus“

Francis Clark-Lowes hat Wilhelm Stekels Leben und Werk und damit ein Stück psychoanalytischer Vereinsgeschichte rekonstruiert

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine altehrwürdige Frage lautet: Woher weiß ich, dass ich nicht träume, wenn ich etwas wahrnehme? In den Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641) gab René Descartes darauf diese Antwort: Ich weiß, „daß ich dieses Papier in der Hand halte […], wie könnte man mir das abstreiten? Ich müßte mich denn mit ich weiß nicht welchen Wahnsinnigen vergleichen, deren Gehirn […] so geschwächt ist, daß sie hartnäckig behaupten, sie seien Könige, während sie bettelarm sind […] – aber das sind eben Wahnsinnige […]. !“ Dann legte er dem gesunden Menschenverstand jedoch sofort wieder ein Hindernis in den Weg: „Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der des Nachts zu schlafen pflegt, und dem dann genau dieselben, ja bisweilen noch weniger wahrscheinlichen Dinge im Traum begegnen […]. Denke ich einmal aufmerksam hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß niemals Wachen und Traum nach sicheren Kennzeichen unterschieden werden können […].“

Diesen Einwand nahm Karl Philipp Moritz ernst – und zog im Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde (1786) daraus den Schluss, dass der „Weise den Traum zum Gegenstand seiner Betrachtungen“ mache, eben weil er „dem Gange der Phantasie und dem Gange des wohlgeordneten Denkens bis in seine verborgensten Schlupfwinkel nachzuspähen versuche“. Diesem Wink folgte wiederum Sigmund Freud – der dabei in Teufels Küche geriet. Hier fand er all die Zutaten für die Speisen, die dem gesunden Menschenverstand nach dem Erwachen als sinnlos erscheinende Träume aufgetischt werden. Mit Hilfe freier Assoziationen könne man in diese Küche zurückkehren, meinte Freud, womit er die Grenze zwischen Vernunft und Traum durchbrach – und den Weg freilegte, der vom gesunden zum kranken Seelenleben führt.

Im Vorwort zur dritten Auflage (1911) der Traumdeutung heißt es dementsprechend: „Die Deutung der Träume sollte ein Hilfsmittel werden, um die psychologische Analyse der Neurosen zu ermöglichen.“ An dieser prominenten Stelle nennt Freud nun auch noch den Namen eines Kollegen, der ihm geholfen habe „die Bedeutung der Symbolik im Traume (oder vielmehr im unbewußten Denken)“ besser zu verstehen: Wilhelm Stekel. Der veröffentlichte im selben Jahr Die Sprache des Traumes. Eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes in ihren Beziehungen zur kranken und gesunden Seele für Ärzte und Psychologen (1911).

Wer war Wilhelm Stekel? Dieser Mann hatte die Anregung für die Gründung der Mittwoch-Gesellschaft gegeben, aus der später die Wiener Psychoanalytische Vereinigung hervorging. Im Herbst 1902 fand das erste Treffen der Gruppe statt, das Stekel in einem Feuilleton beschrieb, das Anfang 1903 im Prager Tagblatt unter dem Titel „Gespräch über das Rauchen“ erschien. Darin teilte er die Namen der Herren nicht mit, die an diesem – aus heutiger Sicht wissenschaftshistorisch bedeutsamen – Treffen teilnahmen; doch er kennzeichnete ihre Charaktere: Das waren der „Meister“ (Sigmund Freud), der „Sozialist“ (Alfred Adler), der „Bequeme“ (Max Kahane), der „Schweigsamen“ (Rudolf Reitler) und der „Unruhige“, womit Stekel sich selbst meinte. Damit hatte er zweifellos Recht. Denn sein rastloser Geist brachte nicht nur fachwissenschaftliche Bücher und Artikel, sondern auch zahllose Beiträge für populäre Zeitschriften hervor, darunter eine Rezension der Traumdeutung, die Stekel 1902 im Neuen Wiener Tagblatt veröffentlichte. Sie gefiel dem „Meister“ so gut, dass er dem „Unruhigen“ ein Exemplar mit dieser Widmung übergab: „Herrn Dr. W. Stekel. Mit herzlichstem Dank für sein großes Verdienst um die Würdigung meines Buches“.

Stekel revanchierte sich für diese Anerkennung vielfach. Er wurde der wortgewaltigste Propagandist der neuen Wissenschaft Psychoanalyse. „Die Rotationsmaschinen aller deutschen Tageszeitungen stöhnten unter seinen Lobeshymnen“ (Fritz Wittels). Und die hörten sich etwa so an: Freud, der „bedeutendste jetzt lebende Traumforscher“; der „große Seelenkenner Professor Sigmund Freud, der mir diesen Weg gezeigt hat und dem ich das neue Licht verdanke, das mir so vieles früher Dunkle erhellt hat“. Und noch in seiner Autobiographie, die er am Ende seines Lebens verfasste und die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, beschreibt er seine Beziehung zum „Meister“ so: „Ich war Freuds Apostel, er war mein Christus.”

Wie angeführt, hatte Freud Stekels Traum-Buch aus dem Jahr 1911 zwar gelobt, doch hinter vorgehaltener Hand – sprich in privaten Briefen – hatte er sich über ihn auch noch lustig gemacht. So schrieb er an C. G. Jung über Stekels Beitrag: „[…] das Schwein findet Trüffeln.“ Jung griff die Metapher auf und antwortete: „[…] es wäre schade, wenn sein Riechorgan uns verlorenginge.“ Die beiden Herren waren nach dem Ende des 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongress nicht mehr allzu gut auf Stekel und Adler zu sprechen, denn diese beiden hatten in Nürnberg 1910 verhindert, dass Jung – wie von Freud vorgesehen – zum lebenslänglich amtierenden Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gewählt werden konnte. Das brachte ihnen zwar die Anerkennung ihrer Kollegen ein, die kurz nach dem Nürnberger Kongress Adler zum Obmann der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und Stekel zu dessen Stellvertreter wählten – aber auch Freuds anhaltenden Groll. Im zitierten Brief an Jung schreibt er: „Natürlich lauere ich auf die Gelegenheit, die beiden abzuwerfen, aber sie wissen es und benehmen sich darum vorsichtig und konziliant, so daß ich vorläufig nichts tun kann. Eine strenge Kontrolle meinerseits ist selbstverständlich; sie lassen sich auch die gefallen. Ich bin in meinem Herzen mit ihnen beiden fertig.“

Nach einer quälend langen Debatte über Adlers Vortrag Der männliche Protest als Kernproblem der Neurose ist es im März 1911 endlich soweit: Adler tritt entnervt vom Amt des Obmanns zurück. Im Protokoll heißt es dazu nüchtern: „Herr Prof. Freud wird per Akklamation zum Obmann […] gewählt und übernimmt sogleich den Vorsitz.“ Kurze Zeit später verlässt Adler den Kreis um Freud endgültig. In einem Brief an Ernest Jones schreibt Freud: „[…] was das innere Zerwürfnis mit Adler anbetrifft, so mußte es kommen, und ich habe die Krise reifen lassen.“ Anders verhält es sich vorläufig im Falle Stekels. Freud räumt ihm noch eine Gnadenfrist ein. In einem Brief an Jung vom April 1911 nennt er dafür drei Gründe: „Erstens, weil er doch im ganzen gutmütig ist und mir anhängt, zweitens, weil ich ihn ertragen muß wie eine alte Köchin, die nun schon so lange im Haus ist, und vor allem drittens, weil man nicht ahnen kann, was er für Dinge entdeckt und entstellt, wenn man ihn abstöße.“

Die „alte Köchin“ muss sich in den kommenden Monaten einige Demütigungen gefallen lassen. So wird im April 1911 in der Mittwoch-Gesellschaft über Stekels Buch Die Sprache des Traumes diskutiert. Freud hält das Referat und nimmt kein Blatt vor den Mund, wie er Jung mitteilt; doch Stekel „behauptete, anstatt sich angespuckt zu fühlen, es habe bloß geregnet, und so ging es ganz gut“. Viktor Tausk spuckte bei dieser Gelegenheit kräftig mit. Im Protokoll heißt es, Tausk habe „ein kleines Stück der Arbeit, das Vorwort [von Stekels Buch – B. N.], als symptomatisch heraus[gegriffen], um es textkritisch zu zergliedern und erkenntnistheoretisch zu kritisieren. Er weist vor allem Fehler in der Begriffsbildung nach […]“. Das war noch lange nicht alles. Ein Jahr später, im Mai 1912, beschreibt Freud Ferenczi in einem Brief die Situation in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung so: „Vor Pfingsten gab es […] eine hässliche Szene zwischen Tausk, der ein böses Raubtier ist, und Stekel […].“

Dann lässt Freud das „Raubtier“ los: Er fordert Stekel auf, Tausk die Buchbesprechungen im Zentralblatt für Psychoanalyse zu überlassen, dessen Schriftleitung Stekel seit der Gründung der Zeitschrift 1910 innehatte. Alle Bitten Stekels helfen nichts, Freud, der Herausgeber des Blattes, bleibt bei seiner Entscheidung. Daraufhin sucht Stekel die Unterstützung des Verlegers, der ihm zusichert, er werde sich für den Schriftleiter (Stekel) entscheiden, sollte es mit dem Herausgeber (Freud) des Zentralblatts zu keiner Einigung kommen. Als Freud von dieser Abmachung erfährt, fühlt er sich von seinem „Apostel“ verraten. Er will diesen Judas jetzt so rasch wie möglich loswerden.

Doch da treten unvorhergesehene familiäre Verwicklungen auf: Freuds 77jährige Mutter Amalie erholt sich in Bad Ischl – und dort hält sich im Sommer 1912 auch Dr. Stekel auf, den die alte Dame aus Wien als Freund ihres ältesten Sohnes kennt. Sie ruft ihn als Arzt zu sich, weil sie sich unwohl fühlt. Stekel bemüht all sein psychosomatisches Wissen, um der Patientin auf die Beine zu helfen. Er meint, da es ihr in Bad Ischl nicht nur an Gelegenheit zum Tarockspiel, sondern auch an Sonnenschein mangle, sei es besser für sie, wenn sie sich weiter südwärts begebe. Für diesen gut Rat und weitere ärztliche Bemühungen erhält Stekel aus Wien per Postanweisung 300 Kronen. Absender ist der jüngere Sohn der Patientin. Stekel will das Geld nicht behalten. Und so schreibt er an Alexander Freud: „Ich […] habe die Zahl der Besuche bei der Frau Mama nie gebucht. […] Im Vertrauen! [diese Worte wurden von einem Leser dieses Briefes nachträglich unterstrichen – B. N.] mit dem Bruder [gemeint ist Sigmund Freud – B. N.] werde ich wahrscheinlich auseinander kommen. Er scheint nicht im stande [sic!] zu sein, seine wahren Freunde [Stekel meint damit sich selbst – B. N.] zu erkennen und zu h a l t e n [im Original gesperrt – B. N.]. Bitte davon keine Erwähnung zu machen [nachträglich von einem Leser des Briefs unterstrichen – B. N.]. Mündlich einmal mehr! Mit vielen herzlichen Grüßen – Ihr ergebener Stekel.“ Neben den Unterstreichungen steht am Rand des Briefs zweimal handschriftlich hinzugefügt: „Schwein“. Wir kennen diese Etikettierung schon: Sigmund Freud hatte sie in einem Brief an Jung benutzt, um Stekel zu kennzeichnen.

Am 9. Oktober 1912 tritt die Wiener Psychoanalytische Vereinigung zu ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpause wieder zusammen. Im Protokoll heißt es, Stekel sei „als Redakteur des Zentralblattes vom Vorstand kooptiert“ worden. Wenig später gibt dann aber auch Stekel – wie vor ihm schon Adler – zermürbt auf. Er verlässt die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, bleibt jedoch, wie vom Verleger versprochen, Schriftleiter des Zentralblatts. Daraufhin zieht sich Freud zurück – und gründet die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. In der Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (1914) zollt er Stekel dann noch einmal Dank, diesmal allerdings in Gestalt eines vergifteten Lobes: Im Laufe der Jahre habe er, Freud, die Symbolik des Traumes, „zum Teil unter dem Einfluß der Arbeiten des zu Anfang so sehr verdienstvollen, später völlig verwahrlosten W. Stekel“, immer besser verstanden.

Über Adler und Jung heißt es in dieser Schrift, diese beiden hätten nach ihrer Trennung von Freud jeweils eine eigene„Abfallbewegung“ begründet (Freud spielt hier mit dem Doppelsinn des Wortes), während Stekel noch nicht einmal diese zweifelhafte Ehre zuerkannt wird. Und doch hat auch Stekel eine eigene „Schule“ begründet, die in den 1920er Jahren unter der Bezeichnung Vereinigung unabhängiger ärztliche Analytiker firmierte. Sie konnte die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft aber nicht überleben. Stekel, der 1938 nach England emigrierte, beging dort 1940 Selbstmord. Überlebt haben allerdings seine Forderungen, die Psychoanalytiker sollten bei der Behandlung nicht nur passiv abwarten, sondern aktiv intervenieren und den Fokus auf die aktuellen Konflikte des Patienten richten, ohne deren lebensgeschichtliche Begründung aus den Augen zu verlieren. Das heute am häufigsten praktizierte Verfahren, das der psychoanalytischen Schulrichtung zugerechnet wird (die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in ihrer Lang- oder Kurzform), folgt diesen von Stekel formulierten Prämissen. Seine Forderungen sind also längst zum Allgemeingut geworden und man könnte ihn mit Recht als Pionier würdigen – hätte man ihn nicht längst vergessen.

Dafür sorgte die vereinskonforme Freud-Biographik. So lesen wir bei Ernest Jones (1962) zum Beispiel: Stekel hatte „einen ernsthaften Charakterfehler, der ihn für akademische Arbeiten ungeeignet machte: er hatte überhaupt kein wissenschaftliches Gewissen“. Auch Peter Gay (1989) wiederholt diese – ursprünglich von Freud aufgestellte – Behauptung, der zufolge Stekel „ein ‚verzweifelt schamloser’ Lügner“ gewesen sein soll. Gay kommentiert diese Diffamierung mit eigenen Worten so: „Für Freud mit seinen ausgeprägten moralischen Prinzipien machte eine solche Verlogenheit alle weiteren kollegialen Bemühungen unmöglich“. Wie wir gleich sehen werden, hat diese Mär vom „Lügner“ Stekel eine tiefere Begründung: Seine Arbeiten könnten den Glanz des „Meisters“ trüben, wenn man sich an sie erinnern würde.

In einschlägigen psychoanalytischen Lexika findet man in der Regel denn auch keinen Eintrag zu Stekel (wohl aber Einträge zu Adler und Jung) – so etwa in The Edinburgh International Encyclopaedia of Psychoanalysis (2006). Anders verhält es sich in der sexualwissenschaftlichen Literatur – so etwa in dem von Volker Sigusch und Günter Grau herausgegebenen Personenlexikon der Sexualforschung (2009). Hier wird noch immer an Stekel als Autor eines zehnbändigen Werkes über Die Störungen des Trieb- und Affektlebens (1912-1928) und als Herausgeber der Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychoanalyse (1924-1931) erinnert. Und jetzt hat endlich auch ein Wissenschaftshistoriker den Bann gebrochen und den in der psychoanalytischen Literatur ignorierten oder geschmähten Stekel rehabilitiert.

Francis Clark-Lowes bietet in seiner vorzüglichen Studie Freud’s Apostle – Wilhelm Stekel and the Early History of Psychoanalysis einen fundierten Überblick zu allen Arbeiten, die Stekel zur Theorie und Technik der Psychoanalyse und zur Sexualwissenschaft beigetragen hat. Im Anhang (der knapp die Hälfte des Buches einnimmt) sind diese fachwissenschaftlichen Veröffentlichung sowie die – oft an entlegenen Orten publizierten – populärwissenschaftlichen Feuilletons Stekels (das waren allein in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts über 550) bibliographiert. Die deutschen Leser können alle von Clark-Lowes angeführten Zitate aus Freuds und Stekels Werken in der Originalsprache lesen (die englischen Übersetzungen stehen in den Fußnoten). Und in der eBook-Version sind die Autorennamen und Begriffe mit Hilfe der Suchfunktion zu ermitteln (die dem Käufer der gedruckten Version nach einer kostenlosen Registrierung im Internet ebenfalls zur Verfügung steht).

So kann man mit Hilfe der von Clark-Lowes akribisch recherchierten Fakten die zwischen Stekel und Freud ausgetragenen Kontroversen jetzt erstmals detailliert nachvollziehen und beurteilen, ohne dabei auf tradierte Verkürzungen und Vorurteile angewiesen zu sein. Das Buch eignet sich somit auch gut als Ausgangspunkt für weitere Forschungen. Ich greife aus der Fülle möglicher Themen einige heraus, die für künftige Historiker der Psychoanalyse besonders interessant sein könnten.

So hat Stekel schon lange vor Freud den Gegensatz zwischen Lebens- und Todestrieb thematisiert. Im Protokoll der Mittwoch-Gesellschaft vom 24. April 1907 heißt es dazu: „Dr. Stekel – geht vom Traum einer Patientin aus, in dem die Verschmelzung von Sexualität und Tod sehr deutlich ist; es kommt ein Mann darin vor, der Eros und Thanatos in einer Person sei. […] Isolierte Triebe gebe es nicht. So erscheint der Geschlechtstrieb immer in Begleitung zweier Triebe: des Lebens- und des Todestriebes.“ Als Freud dreizehn Jahre später in Jenseits des Lustprinzips (1920) erstmals vom „Todestrieb“ spricht, erwähnt er Stekel mit keinem Wort.

Nach diesem Vortrag Stekels über die Psychologie und Pathologie der Angstneurose äußerte Freud laut Protokoll: „Das Angstproblem sei das heikelste, zentrale Problem der Neurosenlehre.“ Freud war damals der Meinung, Sexualstoffe könnten bei „gestauter“ Libido (unfreiwillige Abstinenz) oder inadäquat abgeführter Libido (Coitus interruptus, Masturbation) „toxisch“ wirken – und Angst könne eine Folge solcher Libidostörungen sein. Auf dieser Annahme basierte Freuds Theorie der „Aktualneurosen“ (Neurasthenie, Angstneurose) – der Stekel widersprach. Das Protokoll gibt Stekels Kritik an Freuds Auffassungen so wieder: „Freud habe die Angstneurose auf coitus interruptus zurückgeführt; er sehe die Quelle der Angst in der Ablenkung der somatischen Sexualerregung vom Psychischen. Stekel betont, er müsse demgegenüber daran festhalten, daß auch bei der Angstneurose – wie bei jeder anderen Neurose – der psychische Konflikt wesentlich sei.“ Ein halbes Jahr vor seinem Ausscheiden aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wiederholte Stekel seine Kritik an Freud dann noch einmal. Diesmal gibt das Protokoll Stekels Standpunkt so wieder: „Die Neurasthenie existiert nicht, hinter ihr stecken die psychoneurotischen Symptome.“

Es ging bei dieser Kontroverse aber nicht nur um Fragen der Nosologie. Es ging um mehr – nämlich um die Frage, ob fortgesetzte Masturbation als inadäquate Sexualbefriedigung im Sinne Freuds primär schädlich sein konnte, oder aber, wie Stekel meinte, zu sekundären Beschädigungen aufgrund der durch die schwarze Pädagogik initiierten psychischen Konflikte führen müsse. Diese Kontroverse war Bestandteil der so genannten „Onanie-Debatte“, die in der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft zwischen 1910 und 1912 geführt wurde. Freud hielt dabei in modifizierter Form an der im 19. Jahrhundert verbreiteten Auffassung fest, dass Masturbation zur Verblödung führen könne. Das Protokoll der Sitzung vom 7. Februar 1912 gibt seinen Standpunkt so wieder: „Für den Schaden der Onanie spreche die Beobachtung eines völlig objektiven Beurteilers, der die spätere Verdummung der arabischen Jünglinge auf ihre maßlose und durch nichts gehemmte Onanie zurückgeführt habe.“

Stekel widersprach dieser Auffassung und betonte die Scham- und Schuldgefühle, die im Zusammenhang mit dem Onanieverbot entstehen und zu psychischen Störungen führen können. Auf die dritte Möglichkeit, dass ungelöste Bindungen und damit verknüpfte infantile Phantasien Ursache „übermäßiger“ Masturbation sein könnten, die dann als schädlich zu betrachten wäre, wenn sie die Hinwendung zu einem erwachsenen Liebespartner nach der Pubertät blockiere, scheint Freud angespielt zu haben, als er 1924 an Fritz Wittels schrieb: „Eines Tages, wenn ich nicht mehr bin – mit mir geht auch meine Diskretion zu Grabe –, wird auch manifest werden, daß die Stekelsche Behauptung von der Unschädlichkeit der ungehemmten Masturbation auf Lüge beruht.“ Diese Indiskretion beruhte auf der Tatsache, dass Stekel um 1900 eine kurze (therapeutische) Analyse bei Freud absolviert hatte (Stekel war auch der erste Arzt, der diese neue Behandlungsmethode neben Freud in Wien praktizierte) und Freud daher Einblick in Stekels Lebensgeschichte hatte. Stekel selbst schreibt mit Berufung auf seine Biographie in Briefe an eine Mutter (1929): „Darf ich Ihnen aus meiner Erfahrung mitteilen, wie ich gekämpft und gelitten habe? Ich war im Alter Ihres Jungen, als mir ein Kamerad ein Buch in die Hand gab, das sich ‚Selbstbewahrung’ [80. Aufl. Leipzig 1883 – B. N.] nannte […]. Die Folgen der Selbstbefleckung und der Samenverluste waren in den grässlichsten Farben geschildert. Was für qualvolles Los erwartete die Unglückseligen, die dem erbärmlichen ‚Laster’ verfallen waren!“ Die eigene Erfahrung war also der Ausgangspunkt für Stekels tolerante Haltung in der „Onanie-Debatte“. Er wollte nicht gegen das vermeintliche Laster, sondern gegen die Last der Schuld- und Schamgefühle zu Felde ziehen.

Bereits 1895 hatte Stekel einen Aufsatz Ueber Coitus im Kindesalter publiziert, in dem er die These formulierte, sexuelle Impulse, die in jeder Kindheit spontan auftreten, seien normalpsycholgische Phänomene: „Fragt man eine größere Anzahl intelligenter Personen über diesen Punkt aus, fordert man sie auf, genau nachzudenken, so wird fast jeder Zweite sich an gewisse Vorgänge in seiner Kindheit erinnern, die ihm früher unverständlich waren, die sich aber bei genauer Betrachtung als die ersten Anfänge des Geschlechtstriebes erweisen.“ Die Schlussfolgerung, die Stekel zog, lautete: „Im Kindesalter zeigt sich eben klar, wie viel von dem, was die Menschen mit Willen und Ueberlegung zu thun glauben, auf Rechnung des Instinctes kommt. Das Kindesalter ist die Brücke, die den Homo sapiens mit dem Thierreiche verbindet.“ Mit dieser Argumentation wollte Stekel die sexuellen Wünsche und Verhaltensweisen in der Kindheit vom Vorurteil befreien, es handle sich dabei um pathologische Phänomene, die nur bei „degenerierten“ oder zuvor missbrauchten Kindern auftreten könnten.

Freud kannte diesen Aufsatz Stekels und er zitierte ihn auch – allerdings vollkommen sinnwidrig – in seiner Arbeit Zur Ätiologie der Hysterie (1896), um damit die von ihm damals noch vertretene Auffassung zu untermauern, infantile Sexualäußerungen könnten nur als Folge einer „Verführung“(sprich: Missbrauch) auftreten. Dieser Annahme hatte Stekel 1895 ausdrücklich widersprochen, während Freud noch 1900 in der Traumdeutung daran festhielt, als er schrieb, „die Kindheit“ sei deshalb „glücklich“ zu preisen sei, „weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt“. Erst 1905 korrigierte Freud diese Auffassung, womit er zu dem von Stekel zehn Jahre früher formulierten Standpunkt zurückkehrte. Erst 1911, in der dritten Auflage der Traumdeutung, in deren Vorwort Freud Stekel dafür dankte, dass er ihm zu einem besseren Verständnis des „unbewußten Denkens“ verholfen habe –, folgt dann endlich die notwendige Korrektur. In einer Fußnote heißt es jetzt: „Eingehendere Beschäftigung mit dem Seelenleben der Kinder belehrt uns freilich, daß sexuelle Triebkräfte in infantiler Gestaltung in der Tätigkeit des Kindes eine genügend große, nur zu lange übersehene Rolle spielen […].“

Auch an dieser Stelle gibt es keinen Hinweis auf Stekel. Die Arbeit Ueber Coitus im Kindesalter aus dem Jahr 1895 wird nicht mehr zitiert. Stattdessen lesen wir im Protokoll einer Sitzung der Mittwoch-Gesellschaft, die drei Jahre zuvor – in Abwesenheit Stekels – stattfand, den überraschenden Satz: „[…] die normale Kindersexualität sei tatsächlich, so komisch das auch klingen mag, von ihm – Freud – entdeckt worden. In der Literatur finde sich vorher keine Spur davon.“

Da ist es doch tröstlich zu wissen, dass Stekel wenigstens in der schöngeistigen Literatur ein paar Spuren hinterlassen hat. Martin Brinkmann ist ihnen unlängst in einem klugen Essay nachgegangen: Der Apostel Freuds. Anmerkungen zum Wiener Nervenarzt Wilhelm Stekel (1868-1940), erschienen in Krachkultur 14/2012 (Bunte Raben Verlag). Demnach hat Stekel als Gewährsmann in psychopathologischen Fragen in Der dünne Mann (1934) von Dashiel Hammett einen Auftritt. Und Jerome D. Salinger zitiert ihn gar in Der Fänger im Roggen (1951). Und Stekel selbst hatte auch Kontakt zu Literaten. Er war es ja schließlich, den Freud nicht beim Namen nannte, als er in Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’ (1907) festhielt: „Es hatte sich in jenem Kreise von Männern [gemeint ist die Mittwoch-Gesellschaft – B. N.] […] so gefügt, daß jemand [gemeint ist Stekel – B. N.] sich besann, in dem Dichterwerke, das zuletzt sein Wohlgefallen erweckt, wären mehrere Träume enthalten gewesen, die ihn gleichsam mit vertrauten Zügen angeblickt hätten und ihn einlüden, die Methode der ‚Traumdeutung’ an ihnen zu versuchen.“ Und damit schließt sich der Kreis: Traum und Tagtraum – das heißt: die Dichtung – entspringen ein und derselben Quelle. Und deshalb hatte sich Stekel im März 1902 mit diesen Worten an Wilhelm Jensen gewandt: „Sehr geschätzter Dichter! Ihre herrliche Novelle ‚Gradiva’ hat es uns angetan. Uns – das heißt einer kleinen psychologischen Gesellschaft, die sich allwöchentlich bei Herrn Professor Freud, dem berühmten Nervenarzte, versammelt.“ Es war demnach Stekel, der Freud als erster auf diese Erzählung aufmerksam gemacht hat – und nicht C. G. Jung, wie Jones fälschlich überlieferte. Später, bei der Vorbereitung seines Buches Die Träume der Dichter (1912), wandte sich Stekel dann nicht nur an einen, sondern an viele Dichter, denen er u. a. diese Frage stellte: „Haben Sie in Ihren Träumen kriminellen Einschlag?“ Darauf erhielt er Antworten von Gerhart Hauptmann und Peter Rosegger. Und Karl May ließ sich auch nicht abschrecken. Er gab Stekel seine Bereitschaft zur Mitarbeit umgehend bekannt: „Ihre Aufgabe ist die wichtigste, die ich mir denken kann. Wenn es nicht gleich sein müßte, könnte ich Ihnen sehr Interessantes, aber freilich nicht etwa Krankhaftes, sondern Kerngesundes berichten.“ Doch der Sensenmann machte Karl May dann noch einen Strich durch diese Rechnung – und Stekel musste den Lesern seines Buches später betrübt mitteilen: „Leider hat der Tod den phantasiebegabten Autor [Karl May – B. N.] hinweggerafft, ehe die gewünschte Antwort kam.“ (s. dazu mehr bei Albrecht Götz von Olenhusen: „Haben Sie Tagträume?“ – Karl May und Wilhelm Stekel, Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 35, Nummer 137, 2003).

Die Erklärung für die Sympathie, auf die Stekel bei so manchem Dichter traf, entnehmen wir einem Feuilletonbeitrag, in dem sich Dr. Stekels als „Dr. Gutherz“ so portraitierte: „Er war nämlich auch populär-wissenschaftlicher Schriftsteller, der seine ärztlichen Kenntnisse zum Nutzen der breiten Volksschichten in leicht fasslicher Form in verschiedenen Tagesjournalen verbreitete.“

Auch als E-Book hier erhältlich.

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Francis Clark-Lowes: Freud’s Apostle. Wilhelm Stekel and the Early History of Psychoanalysis.
Authors OnLine, Gamlingay 2010.
431 Seiten, 42,40 EUR.
ISBN-13: 9780755213092

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