Bibel als Literatur und Gott als fiktive Figur

Vorbemerkungen zum Themenschwerpunkt dieser Ausgabe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Ein Anlass für die Wahl des Themenschwerpunktes in der November-Ausgabe von literaturkritik.de war, dass ein vor über sechzig Jahren begonnenes Projekt einen vorläufigen Abschluss gefunden hat – mit der Publikation einer Bearbeitung biblischer Texte, die das Buch der Bücher, die „Heilige Schrift“, als „historisches und literarisches Lesebuch“ präsentiert. Die kanonischen Texte wurden unter theologischen, geschichtswissenschaftlichen, philologischen, didaktischen und ästhetischen Gesichtspunkten überprüft, umgeordnet, gekürzt, zum Teil neu übersetzt und durch nicht kanonisierte Texte ergänzt. Das Ergebnis lädt dazu ein, das „Alte Testament“ und das „Neue Testament“ anders zu lesen: als Geschichts- und Geschichtenbuch mit dem dafür bezeichnenden Titel Israel und Juda. Sage und Geschichte, Weisheit und Hoffnung eines Volkes in Selbstzeugnissen.

Der Herausgeber, Übersetzer und Kommentator dieses Lesebuchs ist August Möhle (1885-1971). Er war Theologe und er war wohl Atheist. Er war ein Gelehrter, der über fünfzehn Sprachen erlernte, ein Forscher, der als Mitarbeiter des Septuaginta-Unternehmens der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften in seiner Dissertation den von ihm in Konstantinopel wiedergefundenen Kommentar zu Jesaia des Theodoret von Kyros edierte, und ein Lehrer, der seine Schüler im Gymnasium mit einem unorthodoxen Bibelunterricht zu fesseln verstand. Nach seiner Pensionierung im Jahr 1950 arbeitete er über zehn Jahre lang an diesem Lesebuch. Es liegen mehrere Fassungen vor. Die Versuche, es zu veröffentlichen, scheiterten in den 1950er und 1960er Jahren an der Orthodoxie, der Ignoranz oder am fehlenden Mut derer, denen er es anbot. Und an den hohen Kosten, die ein Verleger zur Publikation des über sechshundert eng bedruckte Schreibmaschinenseiten umfassenden Werkes hätte vorlegen müssen.

Seit Dezember 2010 erscheinen Teile seines Werkes als Sonderveröffentlichung von literaturkritik.de. Das von August Möhle hinterlassene, mit zahlreichen handschriftlichen Verbesserungen überarbeitete Typoskript wurde über viele Jahre hinweg von etlichen Helferinnen und Helfern komplett neu abgeschrieben, korrigiert und ins Netz gestellt. Die Veröffentlichung ist nun, von kleineren Ergänzungs- und Korrekturbedürftigkeiten abgesehen, abgeschlossen.

August Möhle ist mein Großvater. An der Entstehung seines Lesebuches und an seiner verhaltenen Enttäuschung, dass es ihm nicht glückte, es zu veröffentlichen, habe ich als Jugendlicher Anteil genommen. Doch seit etlichen Jahren bemerke ich als Literaturwissenschaftler, dass er mit seinen Vorstellungen von der Bibel inzwischen weit weniger isoliert ist als damals.

Einer der Mitarbeiter an dem Themenschwerpunkt dieser Ausgabe von literaturkritik.de, Daniel Weidner, hat 2008 zusammen mit Hans-Peter Schmidt ein Buch mit dem Titel „Bibel als Literatur“ herausgegeben (vgl. die Rezension in literaturkritik.de 1-2009). Es informiert unter anderem über angloamerikanische Debatten, die – unter dem Stichwort Bible as Literature – seit den 1970er-Jahren vor allem in Amerika, England und Israel eine literaturwissenschaftliche Forschung über die Bibel hervorgebracht haben. Hans-Peter Schmidt veröffentlichte 2005 das bemerkenswerte Buch „Schicksal Gott Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk“ (vgl. literaturkritik.de 3-2006) und erklärte: „Kein Buch der Literaturgeschichte wurde mehr als die Bibel zur Inspirationsquelle der Schriftsteller und Künstler aller Zeiten. Was freilich auch damit zusammenhängt, daß keine Romanfigur dankbarer als die des allmächtigen Gottes ist, da, vom Teufel einmal abgesehen, keine andere Figur die Vorstellungskraft so reich beschenkt und die Phantasie auf die Abwege vom eingefahrenen Denken lockt.“

Ein Vorwort zu dem Buch schrieb Jan Assmann – mit dem Titel „Die Geburt der Religion aus dem Geist der Literatur“. Gemeint sind mit der Titel-These die monotheistischen Religionen. Erst als bestimmte literarische Bücher nicht „verunreinigt“ werden durften, erklärt Assmann, also nichts hinzugefügt, weggenommen und verändert werden durfte, wurde Literatur zur Religion, wurde Fiktion zur Wirklichkeit erklärt, die Schrift zur Vorschrift. „In dem Maße, wie die neue Form der Schriftreligion an Gestalt und Geltung gewann, verblaßte der literarische Charakter der ‚Bücher’, die zur ‚Bibel’ geworden waren. In dem Maße aber, wie der absolute religiöse Autoritätsanspruch der Bibel verblaßte, trat auch der literarische Charakter der Bücher wieder hervor, aus denen sie besteht. Das ist das Großartige der hebräischen wie der christlichen Bibel, daß sie ihren religiösen Geltungsschwund überlebte und als Literatur wieder auferstand.“

Eine etwas andere Perspektive legt der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in einem 2007 erschienenen Beitrag zum „Handbuch Literaturwissenschaft“ über Religion und Literatur zunächst nahe: die Geburt der Literatur aus dem Geist der Religion. „Am Anfang aller Literatur stehen“, nach dieser Sicht, „in den meisten uns bekannten, vielleicht in allen Kulturen der Menschen Texte vor- und frühgeschichtlicher Mythen.“ Literatur im Sinne von ‚schöner Literatur’ oder ‚Belletristik’ sei Resultat eines kulturellen Prozesses der Ausdifferenzierung, in dem vormals religiöse Textsorten gegenüber ihren religiösen Funktionen autonom werden. Im Kultursystem trete ein literarisches Teilsystem „nun selbständig neben das seinerseits eigenständig weiterbestehende System der Religion“.

Vielleicht ist in dieser systemtheoretischen Perspektive die Frage nach der zeitlichen Priorität von Literatur und (monotheistischer) Religion auf eine Weise zu beantworten, die sowohl eine Geburt der Religion aus der Literatur als auch eine Geburt der Literatur aus der Religion zugesteht, insofern beide ursprünglich nicht voneinander zu trennen waren. Und noch heute sind sie vielfältig aufeinander bezogen – sowie auch Literaturwissenschaft und Theologie in der ihnen gemeinsamen Tradition der editionsphilologischen Textkritik, der Interpretation von Texten oder ihrer Kanonisierung zwar institutionell getrennt agieren, doch viele Berührungspunkte und Kooperationsmöglichkeiten haben.

Darum vor allem geht es in dieser Ausgabe von literaturkritik.de. Etliche Beiträge setzen sich mit Büchern auseinander, die biblische Texte zum Gegenstand literatur- oder medienwissenschaftlicher Untersuchungen machen. Vor allem narratologische Kompetenzen der Literaturwissenschaft sind dazu geeignet, biblische Geschichten im Hinblick auf ihre Erzähltechniken anders zu analysieren, als es in theologischen Exegesen üblich ist. Umgekehrt haben Autoren wie Kafka, daran erinnert ein Essay von Daniel Weidner, immer wieder zu theologischen oder theologienahen Auslegungen provoziert. Literarische und literaturwissenschaftliche Neuerscheinungen, die darüber hinaus besprochen werden, zeigen, dass die Auseinandersetzungen von Schriftstellern mit Religion und Adaptionen religiöser Texte in Literatur und anderen Künsten ein unerschöpfliches Feld für Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen Kunst und Religion sind.

Wo biblische Texte, ihre Wahrheitsansprüche oder die auf ihnen gründenden religiösen Weltbilder kritisiert werden, verlaufen die damit verbundenen Kontroversen und Konflikte heute meist in relativ zivilisierten Bahnen, bewegen sich aber auf sehr unterschiedlichem Niveau. Auch dazu bietet diese Ausgabe Beispiele. Wo Religion in politische Konflikte involviert ist, geht es weniger friedlich zu. Ein Beitrag zur Religions- und Kirchengeschichte in der NS-Zeit und ein Essay zur gegenwärtigen Beschneidungsdebatte zeigen, dass Kulturkonflikte in der Behauptung oder Zurückweisung religiöser Ansprüche eine emotionalisierende Kraft haben, deren destruktives Potential nach wie vor nicht zu unterschätzen ist. Da kann es unter Umständen befriedend sein, sakrale Texte wie profane Literatur zu lesen.