Zwischen „Lesegeknatter“ und hohem Ton

In seinem 38. Jahr kann der Bachmannpreis noch immer überraschen

Von Ursula RennerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Renner

„Sie provoziert und überrascht, bewegt und hat unsere Gegenwart im Blick – die neueste deutschsprachige Literatur.“ Mit diesem Versprechen hat der Piper-Verlag bereits „Die Besten“ von 2014 angekündigt, jene erst ab dem 3. Juli beim Bachmann-Wettbewerb vorgetragenen Texte, die es zwar schon gibt, die aber noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben. Es gibt sie, denn die Jury der (heuer 38.) „Tage der deutschsprachigen Literatur“ hat sie gelesen und aus der Unmenge der eingereichten Texte als preiswürdig herausgefiltert.

Dabei kann es nicht darum gehen, der Welt bereits Bekanntes noch einmal bekannt zu machen. Vielmehr sollten die ehrwürdigen Literaturkritiker riskieren, dass die Welt mit Unverständnis reagiert. Immerhin haben sie beim Bachmannpreis die Chance, ihre Argumente deutlich vorzubringen. Und so hallen die Worte von Marcel Reich-Ranicki nach, dem 2013 verstorbenen, ebenso gescholtenen wie verehrten Mitbegründer des Wettlesens: „Zum Beruf des Kritikers gehört Mut, vor allem Mut zum Irrtum. Wer keinen Mut hat, soll Buchhalter oder Steuerberater werden.“ Nun ist Reich-Ranicki sicher nicht die Matrix für dieses heikle Genre Literaturkritik, das in Klagenfurt jährlich vor laufenden Kameras praktiziert wird. Der Ehrenplatz, den Burkhard Spinnen, der Jury-Vorsitzende, ihm mit seinem Nachruf im Programmheft des Bachmann-Preises einräumt, bezeugt den großen Respekt, aber eben auch die Einsicht, dass man Ranickis so höchst eigenen Umgang mit Literatur nicht wiederholen kann – und dies auch gar nicht versuchen sollte. „Wie alle großen Vorbilder darf man ihn unter keinen Umständen kopieren. Man muss schon seine eigenen Wege finden.“

Das aber ist, wie sich jedes Jahr aufs Neue zeigt, gar nicht so einfach. Die Jury, die sich nach dem Werbetext des Piper-Verlages um die „neueste Literatur“ kümmert, gehört durchweg den 1950er und 1960er Jahrgängen an: neben dem Vorsitzenden, dem einzigen Schriftstellerkollegen, die bereits ‚eingesessenen‘ Jurymitglieder Meike Feßmann, Hildegard Keller, Daniela Strigl und Hubert Winkels sowie der im letzten Jahr dazu gestoßene Schweizer Juri Steiner. Das neue Gesicht in diesem Jahr ist der Wiener Literaturwissenschaftler Arno Dusini, den die GermanistInnen vor allem aus seiner Beschäftigung mit der „Selbstbiographie“ Franz Grillparzers und seinen Studien zur literarischen Autobiographie kennen und schätzen. Jedes Jurymitglied schickt zwei AutorInnen mit ihrem Text ins Rennen, und die Öffentlichkeit kann den Prozess der öffentlichen Urteilsbildung im Fernsehen verfolgen. Oder live dabei sein im ORF-Theater in Kärnten, wie die Duisburg-Essener Studierenden, die im Folgenden eine erste Vorstellungsrunde der eingeladenen AutorInnen versucht haben.

Schwierig zu beantworten ist im Vorfeld die Frage nach aktuellen Trends oder auch Besonderheiten eines jeweiligen ‚Bewerbs‘, wie das Wettlesen in Klagenfurt liebevoll genannt wird. Bemerkenswert in diesem Jahr ist vielleicht der Umstand, dass der mit seinen 53 Jahren schon nicht mehr ernsthaft als Nachwuchsautor titulierbare Tex, ja, ohne t!, Rubinowitz, der noch dazu gleich mit zwei Herkunftsländern – A und D – anreist, dem Bachmannpreis seine eigene Satire gleich mitliefert. Das könnte heiter werden, wenn nicht auch diese Erwartung von ihm lustvoll durchkreuzt wird. Auffallend auch, dass diesmal zwei Autorinnen dabei sind, die eigentlich vom Theater kommen (Karen Köhler und Katharina Gericke) und mit Kerstin Preiwuß eine bisher nur als Lyrikerin ausgewiesene Autorin an den Start geht – auf diesem Feld allerdings, in ihrer Verneigung vor dem symbolistischen Sprechen Mallarmés, nach den Sternen greift. Mit Senthuran Varatharajah wiederum tritt ein junger, globalisierter Nachwuchswissenschaftler an, der zwischen seinem Geburtsland Sri Lanka, dem Kings College in London und der Humboldt-Universität zu Berlin, zwischen Erasmusprogramm, Studienstiftung und Döblin Stipendium offenbar einen Platz in der ‚intellectual community‘ sucht. Von ihm heißt es – zwar nicht völlig gegen die Spielregeln, aber doch ein regelrechter Ausnahmefall – in seiner Bibliographie: „Keine literarischen Veröffentlichungen“. Auch das kann Aufmerksamkeit produzieren!

Schließlich sei noch auf den Schweizer Michael Fehr (Jahrgang 1982) hingewiesen, der die beim Bachmannpreis stets unterrepräsentierte ‚experimentelle‘ Literatur, in diesem Fall die Lautpoesie oder das ‚spoken script‘, vertritt. Gerade von hier aus könnte aber der Bogen zur Namensgeberin des Bewerbs zurückgeschlagen werden. Ingeborg Bachmann wird in diesem Jahr mit ihrem so intensiv bedachten Thema der ‚Grenze‘ in Erinnerung gerufen: „Wir aber wollen über Grenzen sprechen, / und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort“ („Von einem Land, einem Fluß und den Seen“). Die Reflexion über die Grenze kehrt wieder in ihrer berühmtem Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden im Jahre 1959: „Nun steckt aber in jedem Fall, auch im alltäglichsten […] der Grenzfall […]. Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind […]. Es ist auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt.“ Dennoch: „Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten“ („Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“). Auch Ingeborg Bachmanns Sprache ist nicht wiederholbar und inzwischen längst historisch, es sind aber gerade die scheinbar einfachen Sätze, die auch für die neueste Gegenwartsliteratur von Belang sind: „Alle Fühler ausgestreckt, tastet er (der Schriftsteller) nach der Gestalt der Welt, nach den Zügen des Menschen in dieser Zeit. Wie wird gefühlt und was gedacht und wie gehandelt? Welche sind die Leidenschaften, die Verkümmerungen, die Hoffnungen …?“

Die Beiträge der Autoren und die Beurteilungen der Jury kann man sich hier anschauen.

Über die Autorinnen und Autoren bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2014:

Sprachliche Begegnung mit dem Tod
Die Lyrikerin Kerstin Preiwuß präsentiert sich bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur mit einem Prosatext
Von Kathrin Serong

„Sprachskulpturen, nach musikalischen Prinzipien komponiert“
Der Schweizer Michael Fehr liest auf Einladung von Juri Steiner beim Bachmannpreis
Von Halyna Pasichnyk

Kollateralschaden in der Gesellschaft
Die österreichische Erzählerin Olga Flor
Von Halyna Pasichnyk

Neun Blubberblasenmomente
Roman Marchel liest bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur
Von Lisa-Marie George

Eine Theaterautorin wagt den Schritt ins Prosaische
Die Dramatikerin Katharina Gericke ist eine der sechs deutschen Kandidatinnen beim Bachmannpreis 2014
Von Katharina Tummes

Ein Literaturhooligan bei den Tagen der reitenden Leichenwäscher
Wie viel Satire verträgt der Bachmannpreis?
Von Katharina Graef

An der dünnsten Stelle des Stundenglases
Karen Köhlers Figuren kämpfen sich durch das Universum
Von Katharina Graef

Aus Licht und Chaos
Ein Blick auf die Arbeit von Anne-Kathrin Heier
Von Lisa-Marie George

Zwischen Liebe und Tod
Das Leben und Schaffen des Autors Georg Petz
Von Virginia Kalla

Toblerone, Schnee und Schmerz
Die Schweizerin Romana Ganzoni liest auf Einladung von Hildegard E. Keller in Klagenfurt
Von Kathrin Serong

Fluchtwege aus dem neoliberalen Getriebe
Auf Reisen mit der Autorin Birgit Pölzl
Von Virginia Kalla

„Ich träume Frauen, die wie Lurche an Land gehen und atmen lernen.“
Die Österreicherin Getraud Klemm liest auf Einladung von Hubert Winkels bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur
Von Katharina Tummes

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen