Kassiber kurzfristig Verschworener

In seinen jüngsten Gedichten erweist Günter Kunert einmal mehr seine Meisterschaft als Mittler genauester Beobachtung und großer Sprachkunst

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1929 in Berlin geborene Schriftsteller Günter Kunert ist einer der produktivsten deutschen Autoren. Seit Jahrzehnten legte er in beeindruckender Weise Erzählungen, Essays und immer wieder Gedichtbände vor. Als junger Mann hatte er in Ostberlin den DDR-Kulturminister und Dichter Johannes R. Becher kennengelernt, der sein erstes Büchlein förderte.

Die Bekanntschaft mit Bertolt Brecht ermunterte ihn zum Weiterschreiben. Dem jungen Lyriker imponierte Brechts lakonische Schreibweise in seinen späten Gedichte wie etwa den „Buckower Elegien“. Bereits 1948 war Günter Kunert der SED beigetreten. Das Berlin der Nazizeit hatte Kunert mehr oder weniger in ständiger Gefahr überstanden. Als sogenannter Halbjude war er wegen „Wehrunwürdigkeit“ vom Kriegsdienst in der Deutschen Wehrmacht ausgemustert worden.

Die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus, den Krieg und das Elend der Nachkriegszeit hoffte Kunert, wie viele andere Überlebende dieser Zeit ebenfalls, im Aufbau eines neuen, sozialistischen Deutschlands endgültig zu überwinden. Eines seiner frühesten Gedichte, „Über einige Davongekommene“, korrespondiert mit dieser Hoffnung und birgt zugleich jene Skepsis, die in Günter Kunerts weiteren Schaffensjahren mehr und mehr die Überhand erhalten sollte: „Als der Mensch / unter den Trümmern / seines / bombardierten Hauses / hervorgezogen wurde/ schüttelte er sich / und sagte/ Nie wieder. // Jedenfalls nicht gleich.“

Kunerts politische Ernüchterung in der DDR war früh genug eingetreten, um die misstrauischen Kulturfunktionäre auf sich aufmerksam zu machen. Zugleich gelang es Kunert allerdings bereits seit den 1960er-Jahren, seine Bücher auch in der ehemaligen Bundesrepublik zu veröffentlichen. Der vorliegende Band „Fortgesetztes Vermächtnis“ beinhaltet bislang unveröffentlichte Gedichte, die allesamt nach der Jahrtausendwende entstanden sind. In höchster sprachlicher Präzision präsentiert sich Günter Kunert einmal mehr als Meister der Dichtkunst. Ungebrochen findet sich in diesen Gedichten Kunerts lebenslanges Nachspüren unscheinbarer Begebenheiten des Alltags. Ob es ein altes Haus ist oder ein Supermarkt, das menschliche Skelett oder Kometen im All, Kunert macht sich seinen eigenen unverwechselbaren Reim darauf. Zudem korrespondieren Kunerts Überlegungen immer wieder mit dem Phänomen der Sprache, ihren Buchstaben und Wörtern sowie den Büchern, die damit geschrieben wurden.

Das Gedicht „Im Nachbarsgarten“ eröffnet einen unfreiwilligen Blick auf eine „ältere Frau“, die sich mit dem Rücken zum Betrachter bückt: „Wiederaufgerichtet / wendet sie sich um und sieht / mich an: die Botschaft der Blicke, / Kassiber kurzfristig Verschworener“. Bruchteile von Sekunden werden hier messerscharf analysiert und zur Sprache gebracht, auch wenn kein Wort zwischen den beiden gefallen war. Nicht von ungefähr endet dieses Gedicht mit den Versen: „Der Zaun wäre überwindbar / mit Aphrodites Gunst / in archaischer Zeit / gewesen“.

Ironie und Melancholie paaren sich oft in Kunerts Gedichten. Die Thematik des Alterns wie auch das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit findet sich in auffällig vielen dieser versammelten Texte. Ein Winteranfang inspirierte das Gedicht „Zeitlupenleben“ und kommt in aller Nüchternheit zur unmissverständlichen Schlussfolgerung: „Mit zögernden grauen Stunden / schläfert der Norden dich ein, / der unerbittliche Regisseur / verhängt langsam Fenster / mit urgründiger / Schwärze, als wäre / die Generalprobe fällig“.

Im Zuge der Ausbürgerung des kritischen Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR im November 1976 wechselten viele Künstler, Schauspieler und Schriftsteller ihre Wohnsitze in die Bundesrepublik. Es mag Zufall sein, dass sich Günter Kunert wie auch die weggeekelte Lyrikerin Sarah Kirsch in ehemaligen Dorfschulhäusern auf dem schleswig-holsteinischen Lande niedergelassen hatten. Ganz offensichtlich hatte diese Entscheidung eine gute Wahl bedeutet. Die sich angeschlossenen Jahrzehnte hatten sie jedenfalls produktiv zu nutzen verstanden. Günter Kunert war mit internationaler Anerkennung und zahlreichen Preisen bedacht worden. Der wortgewandte Erzähler, Katzenliebhaber, Sammler von Blechspielzeug und Teetrinker hatte sich überdies als Maler, Graphiker und Zeichner mit einer charakteristischen Bildwelt etablieren können.

Titelbild

Hubert Witt (Hg.) / Günter Kunert: Fortgesetztes Vermächtnis. Gedichte.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
173 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783446245303

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