Apollonius in neuem Rahmen

Margit Krenn rückt das Bildprogramm zum „Apollonius von Tyrland“ ins rechte Licht

Von Stefan SeeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Seeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Apolloniusgeschichte ist verwinkelt, spannend und abenteuerlich – und auf den ersten Blick bietet Heinrich von Neustadt mit dem „Apollonius von Tyrland“ einfach einen typischen Minne- und Abenteuerroman in der Tradition des 14. Jahrhunderts. Doch die Sache ist komplizierter, denn der Stoff ist spätantik, er liegt in mannigfachen Fassungen und Bearbeitungen vor und rührt an den Kern der poetologisch komplexen Frage danach, wie romanhaftes Erzählen in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit funktioniert. Steinhöwels Fassung (erster Druck 1471) etwa bleibt knapp angebunden und gibt „nur“ den spätantiken Plot in frühneuzeitlicher Prosa wider.[1] Heinrich hingegen kombiniert die antike Geschichte mit spezifisch „mittelalterlichen“ Einsprengseln, die die Heldenhaftigkeit des Protagonisten in Aventiureketten ausstellen. Diese Zusammenstellung ist für moderne Augen mehr als ungewöhnlich und schwer lesbar, schwillt der Text doch auf das Vierfache an und widerspricht die Binnenhandlung (vor allem mit den mehrfachen Hochzeiten des Helden) dem Ethos und Anspruch des antiken Rahmens, den Heinrich nutzt.

Trotzdem erfreut sich Heinrichs Fassung der Apolloniusgeschichte einiger Beliebtheit – belegt ist dieses Interesse am Roman, der im frühen 14. Jahrhundert geschrieben wurde, allerdings erst durch Handschriften des 15. Jahrhunderts. Die beiden auffälligsten, weil illustrierten Überlieferungszeugen von Heinrichs Text, Gotha Forschungsbibliothek Chart. A 689 und Wien, ÖNB, Cod. 2886, nimmt Margit Krenn in ihrer Frankfurter Dissertation von kunsthistorischer Warte aus neu in den Blick. Ihre Arbeit ist dreigeteilt: Nach einer sehr knapp gehaltenen Einleitung zu Forschungsstand und Methodik, die kaum über das Aufrufen von Stichworten hinausreicht, und einer Hinführung zu Heinrichs Werk beschreibt Krenn zuerst die illustrierten Handschriften mit Blick auf ihre Zeichentechnik, die Bildkomposition und den Illustrationsstill. Dieses Kapitel reflektiert erstmals das Bildprogramm in seiner Entstehung und erhellt die Sinnstruktur der Bilder anhand ihrer Komposition, wobei Krenn für die Gothaer Handschrift paradigmatisch drei Bildkonzepte differenziert: „Entweder dient ein Bodenstreifen als Kommunikationsbühne, eine Landschaftskulisse als Handlungsraum oder ein Innenraum als Schauplatz“. Da Gotha und Wien (bis auf drei der Gothaer Handschrift eigene ganzseitige Illustrationen) denselben Bilderzyklus überliefern, bemüht sich Krenn sodann darum, Unterschiede in der Illustrationspraxis zwischen den beiden Handschriften zu erhellen, indem sie zum Beispiel die „Innenraumabbreviaturen“ der Wiener Handschrift beleuchtet. So wird ein detaillierter, genauer Blick auf die Bebilderung der Handschriften möglich. Dieser erlaubt es Krenn unter anderem auch, die verschiedenen Zeichner der Wiener Handschrift zu differenzieren, die das „Gemeinschaftsprodukt“ verantworten, aber unterschiedliche Qualität in ihren Bildern liefern. Die Gothaer Handschrift wiederum wird als vom „Zeitstil“ geprägtes Produkt einer Malergruppe erkennbar, die sich von der „Buchmalerei des Bodenseeraums“ inspirieren ließ. Die Wiener Handschrift erscheint vom flämischen Stil geprägt. Dieser Ausblick auf das stilistische Umfeld der Handschriften und ihre Vorbilder bleibt dabei notgedrungen kursorisch – so benennt Krenn einen vollständigen Überblick als „notwendiges Forschungsdesiderat“ – , führt jedoch nichtsdestotrotz zu wesentlichen Einsichten in den Entstehungskontext der Handschriften.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit analysiert die Autorin das Bildprogramm der Handschriften im Spannungsfeld literarischer Gattungen, wobei sie mit den Oberbegriffen „Glaube“, „Wissen“ und „Fiktion“ literaturwissenschaftlich vermintes Gebiet betritt. Nicht nur schwelt die Gattungsfrage in der Mediävistik weiter,[2] auch sind Begriffe wie vor allem die Fiktion außerordentlich problematisch und können nicht einfach vorausgesetzt werden. Krenn betreibt die Verschlagwortung jedoch aus kunsthistorischem Pragmatismus: Ihr geht es darum, die Einflüsse unterschiedlicher Bildtraditionen auf die Illustrationspraxis der Wiener und Gothaer Handschrift auszumachen. Das Ergebnis ihrer umfangreichen Analyse ist vielschichtig: Die Handschriften bedienen sich bei etablierten ikonographischen Typen aus dem Bereich der Heiligenvita und Legende, der Allegorie und der Jenseitsvision, aus der Bildtradition von Konrads von Megenberg „Buch der Natur“, bei der „längst standardisierten Minneikonographie“, aber auch bei Reisebüchern und zeitgenössisch neu auftretenden Bildtypen wie den Illustrationen der Fechtbücher.

Krenns Arbeit besticht in diesem Kernteil der Dissertation durch ein großes Bündel luzider Einzelbeobachtungen und eine beeindruckende Kenntnis von Illustrationstypen. So gelingt es der Autorin, heldenepische Bebilderungsmuster der Dietrichepik für den „Apollonius“ plausibel zu machen. Ihre Schlussfolgerungen hieraus bleiben allerdings sehr knapp, wenn sie postuliert, dass bei den „Apollonius“-Illustrationen ein „Trend, die Grenzen zwischen Titelheld und bedrohlichem Wesen aufzuheben“ im Vergleich zu den Heldenbüchern nur angedeutet sei. Gerade vor dem Hintergrund der Idee, dass ein Zeitstil in den Illustrationen zu fassen ist, wäre hier mehr zu sagen gewesen. Im Bereich der Minneikonographie erweist sich die literaturwissenschaftlich wiederum problematische Trennung in niedere und hohe Minne als kunsthistorisch produktiv. Krenn arbeitet heraus, wie der „Bildkanon höfischer Minneromane“ für die Illustration produktiv gemacht und um „niedere“, das Bordell betreffende Ikonographie ergänzt wird. Umfangreich legt sie den Konnex der „Apollonius“-Illustrationspraxis zur Bildtradition der Wissensliteratur dar. Für die Verwendung der Illustrationen aus Fechtbüchern kann sie herausarbeiten, wie sehr die Maler und Zeichner der Handschriften am ikonographischen Puls der Zeit arbeiten; hierbei gelingt es ihr außerdem, die Fechtbücher des Hans Talhoffer als Quellen der „Apollonius“-Illustrationen in Gotha und Wien plausibel zu machen. Ein eigener Schwerpunkt der Ausführungen liegt daneben auf der Bildtradition der Chronistik, die ebenfalls umfangreich Eingang in das Bildprogramm der Wiener und Gothaer Handschrift gefunden hat. Krenn stellt besonders für diese Bildtradition die flämischen Einflüsse auf die „Apollonius“-Maler heraus und hebt die „formelhafte Geste“ als Bildformel hervor, die Rechtsakte wie die Belehnung illustrieren hilft.

Der dritte Teil der Arbeit widmet sich abschließend der Funktion und Rezeption des Illustrationszyklus und ist, ebenso wie schon die einführenden Bemerkungen der Autorin zu Theorie und Methode, nur wenig umfangreich. Krenn betont als Ergebnis ihrer Analyse der Einflüsse unterschiedlicher Bildtraditionen auf die „Apollonius“-Illustrationen zwar einerseits die Heterogenität des Materials (literaturwissenschaftlich würde man von Hybridität sprechen, diesen Terminus vermeidet Krenn jedoch), will aber anderseits als „übergeordnete Interpretationsweise“ eine bildliche Lesart des Textes als Liebes- und Abenteuerroman plausibel machen, bei der das „zentrale Thema der Minne“ in den Vordergrund gerückt werde. Auch wenn die Illustrationen damit in der Mehrzahl „durch eine hohe Textnähe“ ausgezeichnet sind, sollen sie zugleich eine vereinheitlichende, der Ambiguität eben des hybriden Textes entgegenstehende Lesart ermöglichen. Dies ist aber nur denkbar, wenn die Bildtraditionen, die die Zeichner und Maler aufrufen und derer sie sich bedienen, im kollektiven Gedächtnis der Rezipienten der Codices präsent sind, mithin einen eigenen, vereinheitlichenden und glättenden Einfluss auf die Rezeption haben können. Doch diesen Themenkomplex klammert das Kapitel, obschon es die „Rezeption“ im Titel trägt, fast vollständig aus. Krenn geht kurz auf die Benutzerspuren in der Wiener Handschrift ein, die ein Verständnis für das Text-Bild-Zusammenspiel von Cod. 2886 belegen, leitet dann aber zügig zum Erfolg des gedruckten Prosaromans mit seinen Holzschnitten über. Dieser wiederum außerordentlich knappe, nur zweieinhalb Seiten umfassende Exkurs dient dem Zweck, die Spaltung in der Rezeption des Apolloniusstoffes im ausgehenden 15. Jahrhundert zu belegen: Während die Gothaer und die Wiener Handschrift, für deren Illustrationen Krenn eine Spätdatierung auf die die ausgehenden 1460er Jahre ansetzt, als „Luxushandschriften“ auftreten, bietet die gedruckte Prosa (cum grano salis) massenkompatible Einfachheit auch im Bereich der Illustration.

Einer wieder sehr knappen Schlussbetrachtung schließen sich kodikologische Beschreibungen der bebilderten Handschriften und eine Übersicht über die Text- und Bildfolge in Gotha und Wien an. Der Band wird abgerundet durch zum Teil hochwertige Reproduktionen aller Bilder aus beiden Handschriften (zum Teil deshalb, weil die Gothaer Bilder überwiegend schwarz-weiß und nicht farbig abgedruckt werden), die den direkten Vergleich der Bebilderung der Codices erlauben und Krenns Buch zu einem wertvollen „analogen“ Nachschlagewerk machen. Im Zuge der umfangreichen Digitalisierungsarbeiten der UB Heidelberg wäre im Übrigen zu bedenken, ob sich nicht eine Arbeit wie diese für eine Aufbereitung zur Online-Präsentation eignen würde, die den Text mit den Bildern verlinkt und so die Illustrationen aus dem Appendix, wohin sie im Buch verbannt sind, in die unmittelbare Nähe der Analyse rückt.

Margit Krenn hat kunsthistorische Grundlagenarbeit für den „Apollonius“ des Heinrich von Neustadt geleistet, und ihr Buch dokumentiert ihre Ergebnisse eindrucksvoll. Dennoch bleiben Fragen offen und wäre noch mehr zu wünschen: Zum einen vermisse ich schmerzlich eine umfangreichere Verortung der Arbeit in den theoretischen Text-Bild-Debatten, die auch von der Betreuerin der Dissertation, Prof. Saurma-Jeltsch, in grundlegender Weise geprägt werden, aber in Krenns Auseinandersetzung mit den Codices kaum Niederschlag finden. Gerade die Abstraktion aus dem Einzelbeispiel könnte die aktuelle Debatte um das Zusammenspiel von Illustration und Text ergänzen und bereichern, und hier bleibt Krenn, besonders in ihren oft so knappen Schlussfolgerungen, kursorischen theoretischen Einlassungen und oft zu vagen Abstrahierungsversuchen, etwas schuldig. Der Hinweis auf die stichprobenartige Nutzung von möglichen Vorbildern ersetzt die umfangreichere systematische Auseinandersetzung mit den Bildcorpora der unterschiedlichen „Gattungen“ nicht, er zeigt eher, wie viel Arbeit noch zu leisten sein wird, um nicht nur den „Apollonius“, sondern die illustrierten volkssprachigen Texte überhaupt genauer im Geflecht der Bildtraditionen zu verorten und ihre Innovation würdigen zu können.

Zum anderen arbeitet die kunsthistorische Studie mit verengtem Blickwinkel, da ihr der Zugang zur neueren germanistischen Auseinandersetzung mit den Minne- und Aventiureromanen und den germanistischen theoretischen Debatten über weite Strecken versperrt bleibt (beziehungsweise versperrt bleiben muss, denn darauf liegt nicht der Schwerpunkt der Ausführungen) – Krenn nutzt mehrheitlich Handbuchwissen zu Heinrich, kann aber keine neuen Akzente zur Bewertung eines Werkes setzen, das mehr als einhundert Jahre nach seiner Entstehung illustriert wird und in der Bebilderung einen nahezu abenteuerlichen Mix aus althergebrachter christlicher Ikonographie, aktueller Bebilderung der Wissensliteratur und etablierter Romanillustration kombiniert: Dieses Faszinosum des Zusammenspiels von Bild und Text kommt in der Arbeit deutlich zu kurz.

Was Birkhan zur germanistischen Studie der illustrierten „Apollonius“-Handschriften von Simone Schultz-Balluff[3] bemerkt, nämlich dass in ihr die kunsthistorische Perspektive zu kurz komme,[4] gilt in umgekehrter Weise für Krenns Text – die germanistische Seite bleibt unterbelichtet. Daraus ist nun nicht zu schließen, dass man lediglich Schultz-Balluffs und Krenns Studien nebeneinander legen müsste, um ein vollständiges Bild der illustrierten Apollonius-Handschriften zu erhalten, im Gegenteil. Aufgezeigt wird vielmehr, wie dringend notwendig eine zukünftige Zusammenarbeit über die Disziplinengrenzen hinweg ist, um den illustrierten mittelalterlichen Codex als das zu fassen, was er ist: eine Einheit aus Text und Bild, die sich der Auftrennung in Disziplinen versperrt. Nur so werden neue Interpretationen möglich, die die intendierte Rezeptionssituation der Handschriften, ihre Angebote an die Leserinnen und Leser und den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Text-Bild-Einheit erhellen können. Solide disziplinäre Studien sind die Basis einer solchen produktiven Interdisziplinarität, und eine solche solide Grundlage bietet die Arbeit von Margit Krenn.

Anmerkungen:

[1] Den Vergleich mit der lateinischen Fassung ermöglicht neuerdings die Steinhöwel-Edition von Tina Terrahe, 2013 als Band 179 der Reihe „Frühe Neuzeit“ erschienen, vgl. aber die Kritik von Nikolaus Henkel in PBB 136 (2014), S. 727-732.

[2] Vgl. für den Minne- und Aventiureroman als Notbehelf einer Gattungsbezeichnung zuletzt die eindrucksvolle Übersicht bei Christine Putzo: Eine Verlegenheitslösung. Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik, in: Hybridität und Spiel […], hg. v. Martin Baisch u. Jutta Eming, Berlin 2013, S. 41-70.

[3] Simone Schultz-Balluff, Dispositio picta – Dispositio imaginum […], Bern 2006.

[4] PBB 1332 (2010), S. 140.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Margit Krenn: Minne, Aventiure und Heldenmut. Das spätmittelalterliche Bildprogramm zu Heinrichs von Neustadt „Apollonius von Tyrland“.
Tectum Verlag, Marburg 2013.
404 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783828832015

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