Wie schlecht war Goethe wirklich?

Fragen zum Gedicht

Von Robert GernhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Gernhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen ...", hat Schiller ahnungsvoll gedichtet, und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann liefert ihn der diesjährige 250. Geburtstag seines Kollegen und Briefpartners Goethe. 1932 bereits hatte Leo Schidrowitz unter dem Titel "Der unbegabte Goethe" auf über 200 Seiten Stimmen mäkelnder Zeitgenossen des Dichters gesammelt, beispielsweise die Karl August Böttigers, der sich 1809 in der Bibliothek der redenden und bildenden Künste den Faust vorgeknöpft hatte:

"Einige Verse hätte der Dichter doch wohl verbessern sollen, zum Beispiel:

Wo faß ich dich, unendliche Natur?

Euch Brüste, wo? Ihr Quellen allen Lebens,

An denen Himmel und Erde hängt,

Dahin die welke Brust sich drängt,

Ihr quellt, ihr tränkt, und ich schmacht so

vergebens?"

Wie ekelhaft, dass Faust die Natur bei ihren Brüsten fassen will! Diese Brüste verwandeln sich in Quellen und an diesen hängt Himmel und Erde, Fausts welke Brust drängt sich an diese Brüste der Natur, als Quellen allen Lebens, sie quellen, sie tränken, aber dem armen Faust kommen sie nicht zugute. Da ein Dichter, wie Goethe, solche Verse in die Ausgabe seiner Werke von letzter Hand aufnimmt, darf man sich wohl wundern, wenn die Franzosen den Deutschen den Ungeschmack zum Vorwurf machen?"

Nachlesen kann man den Veriss in einer leider arg gekürzten, nur noch 40 Seiten starken, dafür von Hans TraxIer schön bebilderten Neuausgabe von "Der unbegabte Goethe", die der Hanser Verlag herausgebracht hat. Im Original ist Böttigers Schelte etwa dreimal so lang; auch die Attacken Heines, Menzels und Börnes wurden stark gekürzt oder ganz getilgt - schade.

Dafür ist der Kern der Kritik eines gewissen Martin Spann erhalten geblieben: ,Wir wollen nun die goldenen Gedichte des H. v. Goethe nach den noch älteren Gesetzen der Vernunft in den kritischen Schmelztiegel bringen." Beispielsweise das Gedicht "An den Mond": "H. v. Goethe apostrophiert allererst den Mond, und zwar in der Pöbelsprache, indem er nach Art ungebildeter Menschen in den ersten drei Strophen die Zeitwörter ohne ihre persönlichen Fürwörter setzt, also statt `Du füllest wieder Busch und Tal´ lediglich `Füllest wieder etc.´ sagt." Entpuppt sich hier H. Spann als die Karikatur eines seriösen Lyrikwarts - der Dichter untersteht bestenfalls Reimgesetzen, nicht aber Grammatikregeln -, so ist ein weiterer Einwand zumindest nicht unkomisch: Was `die Seele lösen´ heißen soll, bleibt dem Leser zu entziffern, es wird nur zu verstehen gegeben, dass der Mond bisher die übrigen Seelen ganz, die des Dichters seit langer Zeit nur zum Teile gelöst habe" - eine Lesart, welche immerhin die Frage provoziert, wie denn die Goethe-Zeile eigentlich zu betonen sei: "Lösest endlich auch einmal meine Seele ganz", wie von Spann unterstellt, oder "meine Seele ganz"?

Spanns Verriss "Goethe als Lyriker" erschien 1831 im Wiener Conversationsblatt - ist es bloßer Zufall, dass aus solch sicherer Entfernung dieser Tage eine weitere Breitseite gegen den Dichter Goethe abgefeuert worden ist? In Salzburg und Wien nämlich ist der Residenz Verlag beheimatet, für den der "Pisaner Universitätsbibliothekar Gottlieb Amsel" alias der Verlagsleiter Jochen Jung Goethes schlechteste Gedichte zusammengetragen hat.

Erster Eindruck: Welch magere Ernte! Gerade mal 40 durchweg kurze, herzlich unbekannte Poeme hat Jung für schlecht genug befunden; hätte nicht Walter Schmögner jedem Gedicht eine meist ansprechend obszöne zeichnerische Deutung zur Seite gestellt, das Büchl wäre vollends ein Heftl geblieben. Goethes Gedichte füllen überschlagsweise 2000 eng bedruckte Buchseiten; dass sich unter den weit über 2000 Gedichten lediglich 40 "schlechteste" finden sollen, ist eigenlich ein Armutszeugnis, fragt sich nur, für wen. Für den Kritiker? Für den Lyriker?

Schlechte Gedichte guter Dichter lassen sich in der Regel auf zwei Ursachen zurückführen. Entweder haben sich die Verfasser zu wenig Mühe gegeben oder zu viel. Im ersten Fall ist das Ergebnis ein mattes Selbstzitat, im zweiten eine überspannte Selbstparodie - seitdem die Jenaer Romantiker um Caroline Schlegel bei der Lektüre von Schillers Glocke vor Lachen von den Stühlen gefallen sind, haben vor allem die Sänger unter den Dichtern, die Rilke, George, Hermlin unter anderem, für viel unfreiwillige Heiterkeit gesorgt.

Nichts wirklich Mattes und nichts richtig überspanntes jedoch in Jungs Sammlung. Da Goethe sich als "Gelegenheitsdichter" begriff, ließ er zeit seines langen Dichterlebens kaum eine Gelegenheit zu dichten aus, ob er nun einer Bekannten ein Mützchen schenkte oder von einer Unbekannten mit Hosenträgern beschenkt wurde. Das Mützchenbegleitgedicht findet sich bei Jung, das Hosenträgerdankgedicht fehlt, obgleich es nach Anlass und Machart durchaus in das Büchl gepasst hätte. Das nämlich versammelt nicht so sehr schlechte als vielmehr schlichte Goethe-Gedichte, Verslein, die dem simplen Anlass entsprechen, zum Beispiel der Freude über ein Leibgericht. "Die Welt ist ein Sardellen-Salat / Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat" et cetera - beziehungsweise dem Ärger über Kritik:

"O IHR Tags- und Splitterrichter,

Splittert nur nicht alles klein!

Denn, fürwahr! der schlechtste Dichter

Wird noch euer Meister sein."

Nein, auch an diesem Kurzgedicht ist nichts klein zu splittern - hat der große Goethe denn niemals vergleichsweise groß danebengelangt?

Wenn jemand sich um den Dichter Goethe in unseren Tagen verdient gemacht hat, dann Albrecht Schöne, viel gepriesener Herausgeber und Kommentator der beiden Faust-Bände im Deutschen Klassiker Verlag. Und wenn dieser so einfählsame Göttinger Germanist in einem seiner Kommentare so richtig ausrastet, dann muss der Schwan von Weimar schon mächtig ausgerutscht sein: "Für die Berliner Aufführungen aus dem `Faust I´ hat Goethe diese szenische Momentaufnahme" - gemeint ist die Szene "Ein Gartenhäuschen" - "1814 zur Vertonung durch den Fürsten Radziwill in unsäglich platte Singspielverse für Solo- und Duettpartien ausgewalzt."

Ein Goethe, der sich an seinem Faust vergreift? Hören wir mal rein:

"Margarete: Was soll denn aber das?

Warum verfolgst du mich?

Faust: Ich will kein ander Was,

Ich will nur dich!

Margarete: Verlangst du noch einmal

Was du genommen?

Komm an mein Herz! du bist

Du bist willkommen!

Faust: O welchen süßen Schatz

Hab' ich genommen!

So sey denn Herz an Herz

Sich hoch willkommen!" etc.:

In der Tat platt, matt und fad - nicht zu vergleichen mit dem, siehe oben, Sardellensalat. In solchen Reimereien bleibt der Dichter Goethe weit unter seinen Möglichkeiten. Gibt es auch Beispiele, in denen er sie so weit überspannt, dass unfreiwillige Selbstparodie aufblitzt? Im zweiten Teil des Faust macht der Türmer Lynceus die folgende Beobachtung:

"Die Sonne sinkt, die letzten Schiffe

Sie ziehen munter hafenein.

Ein großer Kahn ist im Begriffe

Auf dem Kanale hier zu sein."

Lässt sich die Ankunft eines Bootes noch geheimratsmäßiger, noch gravitätischer, noch umständlicher mitteilen? Sooft mir diese Zeilen einfallen, lassen sie mich zuverlässig schmunzeln, zugleich aber muss der Lyrikwart eingestehen, dass er das wunderliche Versgebilde nicht so recht zu klassifizieren weiß: Ist das nun schlecht? Oder schlicht? Oder aber - mach einer was gegen den alten Goethe! - schlechterdings nicht ganz von dieser Welt und schlichtweg genial?

Titelbild

Gottlieb Amsel (Hg.): Goethes schlechteste Gedichte.
Residenz Verlag, Salzburg/Wien 1999.
95 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3701711542

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