Hass eines Autors

Zu Martin Walsers gefährlichem Buch "Tod eines Kritikers"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Ein Starkritiker verschwindet; unter Mordverdacht jener Autor, dessen Werk der Verschollene am Abend zuvor in aller Fernsehöffentlichkeit exekutierte; Eitelkeiten einer Literaturschickeria; Kriminalermittlungen, bis das vorgebliche Opfer nach Wochen ungestörten Vergnügens mit einer Geliebten quicklebendig wieder auftaucht und, als wäre nichts gewesen, seine machtgesättigte Position einnimmt wie zuvor: Das zwar kein sensationell neuer Stoff, doch einer, aus dem vielerlei sich hätte entwickeln lassen. Komödiantisch grundiert, hätte sich die Selbstentlarvung hochstaplerischer Möchtegern-Machtmenschen angeboten, die im raschen Umschlag der Situationen und Aktionen das vom vorgeblich Toten hinterlassene Machtvakuum auszufüllen trachteten. Auch im ernsteren Ton hätte Walser eine Korruption der intellektuellen Würde zeigen können; eine dem eigenen Urteil zuvorkommende Autoritätshörigkeit, die sich im gekonnten Aufspüren der Mehrheitsmeinung wie auch in wohldosierter Dissidenz zeigen kann.

Nichts von alldem löst Walsers "Tod eines Kritikers" ein. Schon vor Erscheinen derart skandalumwittert, dass es schwerfällt, nicht an eine wohlkalkulierte Kampagne zu denken, braucht von seinem literarischen Wert allenfalls kurz die Rede zu sein. Spätpubertäre Klagen eines immerhin 75jährigen über einsames Leid, über eine wohl so etwas wie Tragik des Lebens schlechthin suggerierende Verklammerung von Verfolgtsein und Verfolgung, ersetzen handelnde Personen, an denen das Behauptete doch erst zu veranschaulichen wäre. Weil sich Walser offenbar nicht recht traut, den Plot, auf den es ihm doch ankommten müsste, als Plot unvermittelt durchzuführen, hängt er der Wiederkehr des Vermissten noch einen Schlussteil an, in dem er nebst diversen Nebensächlichkeiten die Identität des Erzählers mit einer Hauptfigur des Erzählten, dem des Mordes Verdächtigten herbeizerrt - aus dem schon leicht abgenutzten Vorratskoffer dessen, was vor einem knappen Jahrhundert literarische Moderne war.

Zuvor viel Gerede vieler Personen über den Verschwundenen und zur Redundanz neigende Überlegungen des erzählten Erzählers. Das wäre vielleicht noch erträglich, gäbe es nicht statt der mittlerweile in kaum mehr zählbaren Romanen, Essays, Gesprächen und Reden dokumentierten Sensibilität des Verfassers - soweit es jedenfalls sein eigenes Empfinden betrifft - eine wirkliche Analyse des Kulturbetriebs und seiner ökonomischen Grundlagen. Stattdessen regiert das Ressentiment. Es handelt sich um Hass, der sich auf eine einzige Person konzentriert: André Ehrl-König im Roman, leicht dechiffrierbar als der Marcel Reich-Ranicki der Realität.

Die hier noch produktivste Form ist die Sentenz, die freilich in einem Roman zu massiert gebraucht sich abnutzt. Auch Anekdoten will man nur in begrenzter Zahl lesen und fühlt sich ermüdet, treten sie allzu gehäuft auf. Walser, fixiert auf einen Kritiker aus der Realität, an dessen Methode und Selbstinszenierung in der Tat vieles zu kritisieren wäre, bleibt auf der Ebene des individuellen Phänomens und verschwendet keinen Gedanken daran, warum und wann ein Reich-Ranicki auftritt. Welche gesellschaftliche Funktion hat eine Literatur, wie sie durchs "Literarische Quartett" vermittelt wurde; welche Funktion hat der eine Starkritiker in diesem auch ökonomisch bestimmten Betrieb? All das interessiert Walser nicht. Monomanisch hasst er den Menschen, der für ihn die Macht der Kritik wie auch den Verlust der Dichtung repräsentiert. Derart blind, sieht er keinen der realen Konflikte, die seine Figuren erst zum Verhalten brächte und das heißt: zur Handlung, wie sie dem Romanstoff angemessen wäre.

Der bösartige Satz, der das Individuum und nur das trifft, gelingt deshalb; nicht aber eine Handlung, für deren Gestaltung individuelle Kränkung in gesellschaftliche Erkenntnis zu tranformieren wäre. Darum langweilt Walsers Roman jene Leser, die nicht schenkelklopfend das sprachgewordene Ressentiment gegen den insgeheim gefürchteten Großkritiker unermüdlich teilen; darum braucht das Buch den Skandal.

Den Skandal bekam Walser mit dem Vorwurf, ein antisemitisches Buch geschrieben zu haben. Die Weigerung der F.A.Z., einen Roman gegen ihren einstigen Literaturchef abzudrucken, wäre ehrenhaft, doch kaum von übergreifendem Interesse. Es geht nicht um die Person Marcel Reich-Ranicki, die sich nun zu Recht angegriffen fühlt, freilich sich jahrzehntelang als Kritiker auch nicht immer sanft äußerte. Es geht darum, ob Reich-Ranicki als Jude angegriffen ist, ob Walser, wie es sich in früheren Romanen und der Friedenspreisrede andeutete, unbequeme Juden als Störenfriede einer deutschen nationalen Harmonie ansieht. Es geht also nicht um die Literatur, der mit diesem misslungenen Roman ohnehin kaum gedient ist, sondern um eine politische Frage: Ob heute ein antisemitisches Buch in jenen Restbeständen eines Bildungskleinbürgentums, das Walser heute liest oder wenigstens kauft, akzeptiert wird.

André Ehrl-König, der Großkritiker im Roman, ist wie sein reales Vorbild Reich-Ranicki Jude. Für den Handlungsverlauf hat das keinerlei Auswirkungen; wie auf manches andere hätte Walser auf diesen Aspekt verzichten können. Keinesfalls geht es ihm um historische Treue: kein polnischer Jude wie Reich-Ranicki ist Ehrl-König, sondern er stammt aus Lothringen und ist erst 1970, etwa zehn Jahre nach dem Vorbild, in die Bundesrepublik eingewandert.

Der Kritiker also bleibt ohne Not und ohne das Postulat der Realitätsentsprechung im Detail Jude. Aus dem vorgeblich helleren Westen stammend ist er von den Vernichtungslagern auf polnischem Boden distanziert und bekommt neben einem Vater, der natürlich Bankier ist, eine Mutter angedichtet, die als Urbild der Unverwüstlichkeit immer noch 103jährig lebt. Von bodenloser Perfidie ist angesichts der realen Figur Reich-Ranicki, der die Nazi-Herrschaft nur knapp im Warschauer Ghetto überlebte, das nirgends dementierte Gerücht, Ehrl-König habe der Geheimpolizei des französischen Vichy-Regimes zugearbeitet.

Ehrl-König spricht ein internationalistisches Kauderwelsch: osteuropäisches Jiddisch; vermutlich polnisch bedingte Betonungen des realen Reich-Ranicki und romanimmanent herkunftsbedingte französische Aussprache ergeben eine trübe Mischung, eine Kunstsprache im engsten Sinne: für die Öffentlichkeit eingeübt zusammen mit "RHH", jenem Mann, der Ehrl-Königs Auftieg organisiert hat. Frank Schirrmacher hat einige Kostproben jener Kunstsprache veröffentlicht und damit ein wesentliches Argument für den Antisemitismusvorwurf genannt. Ans Boshafte grenzt, dass Walser den Juden Ehrl-König in Skinhead-Manier von "doitsch" schwadronieren lässt.

Freilich ist der Jude in Walsers Welt, dem antisemitischen Klischee entgegen, nicht der allmächtige Strippenzieher. Vielmehr ist er als Star erst gemacht, von jenem RHH. Als "farbenblinder Kunsthistoriker" unfähig zur adäquaten Wahrnehmung, rettete er sich nach fünf erfolglosen Gedichtbänden zu Adornos Diktum, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich; Adornos Reflexion erscheint so als Tarnung mangelnder Schöpfungskraft. SPD-nah und christlich vereint er weitere in Walsers Sicht negative Merkmale.

Was für Leute fördert ein solcher vaterlandsloser Geselle? Offenbar seinesgleichen. Ehrl-König weiß keinen exakten Geburtsort, sondern schwankt zwischen deren vier, alliterierend: Bonn, Brüssel, Berlin, Breslau. Der verlorene Ort steht gegen drei politische Machtzentren und die Markierung eines Verlusts: Ehrl-Königs Geburtstagsfeiern finden jährlich an jedem dieser Orte statt, statt in Breslau jedoch in Wien, wohl um seine Macht im ganzen deutschen Sprachraum zu veranschaulichen.

Zum Klischee jüdischer Heimatlosigkeit tritt das der Geilheit. Ehrl-König ist sexbesessen. Nach getanem Vernichtungswerk in seiner Fernsehshow hält er auf der Party seines Verlegers Hof und begrabscht eine neben ihm kauernde Verehrerin. RHH berichtet über ihn, Ehrl-König habe sich gern über "schicksalslose, ihres Aufblühens noch nicht ganz sichere Mädels oder Mädelchen" hergemacht, und er habe ihm "jede auftauchende Literaturjungfer" sofort melden müssen. Dabei sei Ehrl-König, so dessen Frau, wegen sofortiger Ejakulation zum sexuellen Genuss kaum in der Lge gewesen; Sex und Macht gehören für Ehrl-König offenbar zusammen.

Wohl deshalb sind auch seine Fernsehsendungen voller Anzüglichkeiten und sind sie selbst in sexueller Metaphorik beschrieben; während das Publikum sich selbst einem Höhepunkt entgegenklatsche, "den man dann nur noch Orgasmus nennen könnte", ergeht sich Ehrl-König in der wiederholten Äußerung, nicht sei ihm so zuwider wie eine "ferigide, perimitive Ferau, eben eine dumme Gans".

Die Darstellungen, die sich unmissverständlich auf eine lebende Person beziehen, entbehren jedweden Gefühls für Würde und Anstand; Reich-Ranickis nicht in jedem Fall erfreuliche Äußerungen zu Frauen und Kunst überbietet Walser mit sensationshaschenden Schlüpfrigkeiten wie der, dass Ehrl-König besonders von Schwangeren bis zum dritten Monat erregt werde. Es sind stets Personenreden, die hier zitiert wurden; doch keine Multiperspektivität entsteht, alle plappern dasselbe. Der Roman tendiert zum Geschimpfe, das von seinem Gegenstand beherrscht bleibt. Walser wirkt wie eine Schwundstufe jenes Céline, dessen Sprachmächtigkeit ihm doch in jedem Belang fehlt.

Die Einzelzüge belegen den Antisemtismusvorwurf nicht. Es mag Kritiker geben, denen der Speichel aus den Mundwinkeln tropft, sobald eine auf ihre Unterstützung angewiesene Jungautorin in ihr Blickfeld kommt; Kritiker haben sicherlich häufig Freude an Machtausübung, vielleicht weiß auch mal einer seinen Heimatort nicht oder hat einen Bankier zum Vater. Trifft all dies auf einen jüdischen Kritiker zusammen, der zudem die Aufklärung lobt und den vorgeblich dunklen Dichter Hölderlin verabscheut, treten die Details in ein Verweissystem ein, das sich antisemitischen Mustern nähert. Hinzu tritt, dass der Zuwanderer zwar sein Leben der "doitschen" Literatur widmet, doch nie in ein inniges Verhältnis in ihr zu treten vermag: Sie wird ihm Objekt seiner Machtausübung, der Kritik von außen oder des Lobes von oben herab. Jene liebevolle Zustimmung, die nach Ansicht einer Romanfigur Gegenteil von Kritik und Voraussetzug jeder Äußerung sei, bleibt ihm fremd. "Wenn man nicht zustimmen kann, soll man den Mund halten": Walser geht es nicht um bessere Kritik, sondern darum, dass Kritik überhaupt verstummt. -

Der Kritiker also ist zergliedernder Jude, obwohl Handlung und Konstellation es nicht erzwingen; wie sieht es mit seinem Gegner aus? Dessen vielzitierte Hitler-Paraphrase, ab Null Uhr werde zurückgeschlagen, löst zwar sofort die Bestürzung aller Zuhörer aus. Walser wusste und reflektierte also die Sprengkraft dieses Satzes, der für die Handlung ebenfalls bedeutungslos ist. Der Verlauf aber dementiert die Bedrohung, die gerade dadurch ihre ideologische Funktion erhält: Dem Juden, der mit Hitlers Angriffsdrohung konfrontiert ist, geschieht nicht nur nichts - er lebt sogar im Verborgenen seine sexuellen Bedürfnisse aus, während der Hitler-Imitator völlig zu Unrecht des Antisemitismus verdächtigt wird.

Wie das geschieht, ist beachtenswert. Wochen nach Ehrl-Königs Verschwinden heißt es plötzlich: "Das Thema war jetzt, daß Hans Lach einen Juden getötet hatte." Von allen Debattenbeiträgen gibt Walser jedoch nur einen wieder, in dem ein Essayist die Besonderheit des Mordes an einem Juden leugnet; dessen fiktiver Autor wird natürlich sofort von der von ihm vorausgesehenen "Gesinnungspresse" mit ihren "Meinungsbörse" niedergemacht. Warum das Motiv nach zwei Dritteln des Romans offen angesprochen wird, um dann ohne jede Folge für den Verlauf für das letzte Drittel wieder in den Hintergrund zu treten, ist auf den ersten Blick rätselhaft. Genaueres Hinsehen ergibt jedoch, dass es immer wieder mitspielt.

So gilt Ehrl-König der Frau seines Verlegers als "die Operettenversion des jüdisch-christlichen Abendlandes". Während sie zum "Saturnischen", Nicht-Christlichen vorzustoßen unternimmt, bleibt der vorgebliche Mörder Hans Lach in ihrer Sicht im peinigenden christlichen Schuldzusammenhang gefangen, als "der gequälte Christ, der sich helfen kann zuerst nur mit Delirium, dann mit der Tat"; die Tat aber beging er nicht, so dass diese Versionen des negativ Christlichen als Phantasien des sich selbst als Romanfigur generierenden Erzählers zu lesen sind. Diese Konstruktion verdeckt die Feindschaft gegen ein jüdisch-christliches Schulddenken nur mühsam; an anderer Stelle wird der Nietzsche-Bezug deutlicher, vor allem in Lachs fiktivem Werk "Der Wunsch, Verbrecher zu sein", das aber nirgends auch nur in die Nähe der Prägnanz und Intelligenz des Vorbilds kommt.

Kritik an Schuldkonzepten, wie sie von Christen vertreten wurden und viele Opfer in vermeidbare Gewissensqualen stürzten, bleibt auch in Zeiten der Entkirchlichung notwendig. Von einem einheitlich Christlich-Jüdischen zu plappern, wo es um den nur scheinbaren Mord an einem Juden geht, der tatsächlich immer munter obenauf bleibt: das tendiert zur Leugnung deutscher Schuld, die dann konsequent auch mehrfach zum Thema in einem Roman wird, in dem dies nicht nahegelegen hätte. Mehrere Personen des Romans zeigen einen Antifaschismus, der aus "braungrundierter Kindheit" stammen soll. Sie hätten selbst bei einem anderen Ausgang des Krieges "braune Karrieren machen können" und kompensieren nun ihre potentielle Schuld. Die Warnung vor Rechtsradikalismus wird in Walsers Darstellung zum Problem beinahe verkorkster Biographien, als würden nicht tatsächlich in Deutschland Fremde totgeschlagen, die dann leider nicht nach ein paar vergnüglichen Bettepisoden wieder auftauchen.

Hans Lach als Besiegbarer wird an herausgehobener Stelle, dem Ende des ersten der drei großen Teile, die den Roman bilden, mit dem besiegten Deutschland parallelisiert. Es geht um das Gefühl des Besiegtseins, das das Opfer vernichtet. "Das erlebte ich an Hans Lach. Du kannst andere beschuldigen, aber du weißt: du allein bist die Ursache deiner Niederlage. Siehe doch Deutschland. Abgesehen davon, daß es eben überhaupt keine Rolle spielt, warum du besiegt bist."

Im Changieren zwischen Individuellem und Historischem wird der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der zunächst noch zugestanden ist, ins Gefühl aufgelöst: ins Gefühl, unten zu sein. Die Verlegerswitwe lässt er später notieren, die "Masche Gerechtigkeit" führe zu Utopien, und Utopien führten zu Verbrechen: "Kein Verbrechen kommt ohne Utopie aus. Keine Utopie ohne Verbrechen. Verbrechen für immer mehr Gerechtigkeit. Den Unterschied, den Moral und Gesetz zwischen Tätern und Opfern machen müssen, begreife ich, je schlimmer die Tat ist, um so weniger. Ich bin und bin keine Historikerin."

Deutlich ist hier die Sehnsucht, endlich jeden Schuldzusammenhang zu überwinden, nicht nach Kausalitäten zu fragen, sondern alles in vage Begrifflichkeiten aufzulösen. Deutschland, in dieser Logik, wäre nach der Überwindung von Moral und Gesetz deshalb besonders entlastet, weil seine Taten besonders schlimm waren, das Postulat des Nicht-Begreifenwollens und -könnens besonders wirksam griffe. Das Opfer wäre nicht mehr besser, wäre wie in der Haupthandlung Ehrl-König gar kein Opfer mehr und könnte die nationale Gefühlsharmonie weder als Kritiker noch sonstwie stören.

Figurenrede? Es gibt in diesem Roman fast keine Figuren, es gibt fast nur Sprachrohre des Autors. In diesem Roman, der um so ideologischer wird, je mehr sein Autor auf unvermittelter Erfahrung besteht, entzieht sich eine einzige Figur dem Schema: Ehrl-König, der folgerichtig zum Hassobjekt wird.

Es wäre ungerecht zu verschweigen, dass an ganz, ganz wenigen Stellen die Möglichkeit eines anderen Romans aufscheint: wo sich Andeutungen finden, dass der Selbstinszenierung des Kritikers eine ähnliche Schwäche zugrundeliegt wie dem Erleben der von ihm Kritisierten, die zum Teil, wie Lach, ebenfalls nach dem großen Auftritt und dem Moment der Stärke gieren. Die Momente solcher Nähe, die in der Tat eine spannungsreiche Konstellation hätte ergeben können, verschüttet Walser jedoch gleich wieder, indem er sich zu spitzer Bosheit, zum von ihm bis zum Überdruss bekannten Leidensgejammer des noch an seiner eigenen Rohheit leidenden Verfolgten und zu endlosen, stereotypgesättigten Tiraden hinreißen lässt.

Walsers Ressentiment gelangt nicht auf jene Stufe literarischer Verarbeitung, auf der überhaupt nach ästhetischen Maßstäben sich erst urteilen ließe. Das Buch ist ein abstoßendes Dokument einer persönlichen Abneigung, vor allem aber der politische Skandal, als der es allein Beachtung verdient. Insgesamt tritt ein konsistentes antisemitisches Muster hervor. Konsequent ist die Shoah bagatellisiert, erscheint Kritik an deutscher Vergangenheit und Gegenwart als christliche Schuldwut oder biographisches Problem.

Das führt zur Wertung der Debatte, die Frank Schirrmacher auslöste. Indem er ein Buch attackierte, das noch gar nicht auf dem Markt war, verstieß er gegen ein literaturkritisches Ethos, das indessen in diesem Fall nicht greift: Die Auseinandersetzung ist nicht unter dem Aspekt der Literatur bedeutsam, sondern unter dem der Politik. Richtig ist zwar die Entscheidung des Suhrkamp Verlags, den Roman zu publizieren: allzu leicht entstände sonst ein Mythos um den unterdrückten Text. Über das Werk zu diskutieren, als sei es eine beliebige Fiktion, wird seinem Status dennoch nicht gerecht. Walser führt, ob er selbst es weiß oder ob er in seiner Emphase des Opfer-Seins jeglichen Realitätsbezug verloren hat, einen politischen Angriff, der auf dem gleichen Feld zurückzuschlagen ist. Wenn nun der "Tod eines Kritikers" als literarische Hervorbringung wie andere auch gewertet würde, wäre der Grundkonsens in Deutschland nach 1945, dass zumindest offener Antisemitismus nicht geduldet wird, beschädigt.

Abschließende Frage: warum erst jetzt? Antisemitismus ist, wie Wulf D. Hund schon vor Jahren nachgewiesen hat und wie erst jetzt in die Feuilletons gelangt, in Walsers Romanen nicht neu; nationale Harmonie unter Auschluss der "Meinungssoldaten" dekretierte Walser schon in der Paulskirche, Gefühl statt Erkenntnis als Haltung zur deutschen Geschichte forderte er zuletzt vor wenigen Wochen in der Diskussion mit Gerhard Schröder. Vielleicht wäre sogar "Tod eines Kritikers", in dem er seine Positionen zwar zuspitzt, doch nicht erst erfindet, in einer anderen politischen Konstellation der Antisemitismus-Diskussion entgangen. In einer Phase jedoch, in der die deutsche Rechte fürchten muss, dass brachiale Populisten den soliden Aufstieg Deutschlands eher gefährden - von Geschäften nicht zu reden, die man schon heute weltweit machen will -, in einer solchen Phase sind auch die schrillen Töne, wie sie Walser produziert, nicht opportun.