Bindung und Emanzipation

Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin

Von Stefan SchankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1902 nahm Rilke das Angebot des Breslauer Kunsthistorikers Richard Muther an, für dessen "Sammlung illustrierter Monographien" den Band über Auguste Rodin zu schreiben und zu diesem Zweck nach Paris zu gehen. Die Aussicht, in der Umgebung des großen französischen Bildhauers zu leben, war für Rilke faszinierend. Der Dichter erhoffte sich von diesem Ortswechsel auch eine dichterische Weiterentwicklung und eine Befreiung von den Zwängen des Familienlebens - die Ehe mit Clara Rilke-Westhoff war nach nicht einmal anderthalb Jahren praktisch gescheitert.

Rilke nähert sich dem ,verehrten Meister', wie er Rodin in seinen Briefen oft nennt, anfangs beinahe unterwürfig. In langen Briefen an Clara Rilke-Westhoff begründet Rilke seine Ergriffenheit von der Person Rodins mit dessen künstlerischem Ethos. Rodins in der Rilke-Forschung viel zitierter Ausspruch von der Aufgabe des Künstlers: "Oui, il faut travailler, rien que travailler. Et il faut avoir patience", den Rilke zum ersten Mal in einem Brief an seine Frau im September 1902 zitiert, prägte sich dem Dichter fürs Leben ein. Das idealisierte Bild des nur für sein Werk lebenden Künstlers Rodin verfestigte sich nach dem Abschluss der Monographie, derentwegen Rilke nach Paris gereist war. Durch Besuche und Briefe hielt Rilke den Kontakt zu Rodin weiterhin aufrecht. Dass Rodin auf die verehrungsvollen Depeschen seines Bewunderers stets nur knapp antwortete und öfters seinen Sekretär schreiben hieß, tat Rilkes Begeisterung keinen Abbruch.

Seine eigenen Interessen verlor der junge Dichter bei aller Ergriffenheit aber keinesfalls aus den Augen, wie etwa seine Bitte um eine Empfehlung Clara Rilke-Westhoffs für ein Stipendium, zeigt. Und dass Rilke es genoss, wenn er BriefpartnerInnen gegenüber auf seine Vertrautheit mit dem großen Rodin hinweisen konnte, ist sicherlich kein Grund, an der Aufrichtigkeit seiner Bewunderung zu zweifeln. Denn auch wenn Rilke später erkannte, dass sich die Arbeitsweise des bildenden Künstlers nicht auf die Dichtung übertragen lässt, so war Rodin doch eine der wichtigsten prägenden Gestalten in Rilkes Leben.

Zum Zerwürfnis zwischen beiden kam es, nachdem Rilke einige Zeit als "eine Art Privat-Sekretär" (an Karl von der Heydt, 19.10.1905) für Rodin gearbeitet hatte - eine Tätigkeit, die Rilke mal als unbedeutende kleine Hilfe herunterspielte, gelegentlich aber auch zum hehren Freundschaftsdienst am vereinsamten Rodin stilisierte. Rilke erledigte, gewissermaßen als Teilzeitkraft, einen Teil von Rodins Korrespondenz, und ein paar Monate verlief alles zur beidseitigen Zufriedenheit. Dann jedoch führten die physische Arbeitsbelastung, Vertrauensschwund bei Rodin und banaler Ärger über Missverständnisse "zur Verabschiedung des Sekretärs" - so die schonende Bezeichnung des Herausgebers der vorliegenden Ausgabe für Rilkes fristlose Kündigung im Mai 1906.

Die Auseinandersetzung Rilkes mit Rodin trägt Züge eines Vater-Sohn-Konflikts, dies wird spätestens im Konflikt der beiden am Ende von Rilkes Sekretärs-Tätigkeit offensichtlich. Rilke lebte in der Gegenwart Rodins in einer zunehmenden Spannung zwischen Selbstaufgabe und dem Drang nach Selbstverwirklichung. Rilke war, wie Rodin, ein Mensch, der nur für seine Kunst leben wollte. Dies machte die beiden durch Alter, Sprache und Métier getrennten Männer zu verwandten Seelen. Aber die Forderung der Kunst nach Ausschließlichkeit ließ es nicht zu, einem anderen auf Dauer Zeit und Energie zu opfern, und sei es auch nur für ein paar Stunden Briefeschreiben am Tag. Schließlich wurde die Grundlage der Freundschaft zwischen Rilke und Rodin zum Ausgangspunkt ihres Zerwürfnisses: Rilke brauchte und wollte wieder seine Freiheit. Er erkannte (oder spürte) die Zusammenhänge: "es ist etwas in mir, das weit über mein Alter hinausreicht, ein großes unbewußtes Anschauen und Einsehen, ein gewisses Unbeirrtsein im Wichtigen, ein primitiver Einklang mit den letzten Dingen; (das eben ward die Grundlage meiner Freundschaft mit Rodin)." (An Karl von der Heydt, 28.4.1906)

Die folgenden Jahre waren auf Seiten Rilkes von einer zunehmenden Entidealisierung des Menschen Rodin bei gleichbleibend hoher Wertschätzung für den Künstler gekennzeichnet. Die realistischere Sicht des Anderen ermöglichte es Rilke, auch dessen Defizite zu sehen, etwa dass Rodin trotz seiner künstlerischen Größe unter quälender Todesfurcht litt - ein Phänomen, das Rilke unverständlich war - oder dass er unfähig war, Frauen als gleichberechtigte Wesen zu betrachten. Aus dem 'verehrten Meister' Rodin wurde so mit den Jahren ein "sehr lieber großer Freund" - in der Anrede im Brief und auch in der Wahrnehmung des Dichters, der nun seinerseits dabei war, zu einem Großen zu reifen.

Die vorliegende Edition versammelt die erhalten gebliebenen Briefe, die zwischen Rilke und Rodin gewechselt wurden, und ergänzt sie durch zahlreiche weitere, zum Teil längere Zitate aus Briefen Rilkes an andere AdressatInnen, in denen er Rodin zum Thema macht. Die im Original französisch geschriebenen Briefe wurden ins Deutsche übersetzt. Ausgaben wie die hier von Rätus Luck zusammengestellte sind für die Rilke-Forschung wichtig, weil sie es möglich machen, Spannungsbögen, Zusammenhänge, Beziehungen und Konflikte nachzuvollziehen. Dies ist ansonsten ein schwieriges Unterfangen, da es noch immer keine chronologisch angelegte Edition aller gedruckten Briefe Rilkes gibt und man sich durch mehrere Dutzend Briefausgaben arbeiten muss, um ein halbwegs vollständiges Bild von einer Lebensphase des Dichters zu bekommen. Von diesem praktischen Nutzwert abgesehen, ist es einfach spannend, die Nuancen in den Darstellungen des Dichters gegenüber verschiedenen BriefpartnerInnen zu verfolgen. Auf die sorgfältige Edition und die Qualität ihrer Kommentierung hinzuweisen, erübrigt sich fast bei einem so renommierten Herausgeber.

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Rainer Maria Rilke / Auguste Rodin: Der Briefwechsel.
Herausgegeben von Rätus Luck.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
426 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3458170634

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