Poetische Kartographie

Über Marcus Roloffs Gedichtband "Gedächtnisformate"

Von Tobias AmslingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Amslinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das sibirische Workuta, das norddeutsche Ahlbeck und den Berliner Club "Maria am Ostbahnhof" scheint wenig miteinander zu verbinden. Bei der Lektüre von Marcus Roloffs zweitem, schön gestaltetem Lyrikband "Gedächtnisformate" wird jedoch eine Art poetische Landkarte sichtbar, auf der die Entfernung zwischen Orten wie diesen nur wenige Zeilen beträgt.

Was den 1973 geborenen Autor interessiert, sind nicht die Lokalitäten an sich, sondern die damit verbundenen Erinnerungen, Assoziationen, sowie auch die historischen und literarischen Bezüge. Roloff bewegt sich schreibend in seinem Gedächtnisraum, untersucht und verknüpft die darin vorhandenen Orte; er formatiert und kartografiert seine Erinnerungen, macht diese zum Gedicht. So ist der Berliner Landwehrkanal auch der Landwehrkanal, in dem sich Rosa Luxemburgs Kleid mit Wasser vollsaugte ("rosa, das kleid ist nass"), und die Straße von Frankfurt nach Neu-Isenburg "sieht aus wie eine von greifswald / nach anklam. beginnt da hinten etwa das meer".

Von der Aufteilung her erinnert der Band an ein Triptychon. Die beiden "Seitenflügel" umfassen jeweils 20 Gedichte, der Mittelteil 16. Die erste Abteilung ist überschrieben mit gärten & schlösser. Ihr ist ein Motto aus Nicolas Borns Gedicht "In Berlin 1966" vorangestellt, das durchaus programmatisch für die beschriebene Bewegung von Ort zu Ort gelesen werden kann: "von Britz nach Alt-Gatow / von Tegel nach Old-Eden." Bei Born heißt es weiter: "Kiefern und Birken interessieren uns nicht". Diese völlige, durch politische Missstände erzwungene Ablehnung einer idyllischen Wanderung durch die Natur teilt Roloff nicht - jedenfalls nicht gleichermaßen radikal. Nicht dass der aus Neubrandenburg stammende Autor ein Naturdichter im klassischen Sinn wäre - aber man merkt den Texten doch an, dass Roloff in ländlicher Umgebung aufgewachsen ist, die Stille kennt. Er schreibt über die Natur, aber verharrt nicht bei der bloßen Betrachtung der Wälder, Felder und Seen: "hinter den baumkronen hält ein schlusslicht / die ferne bereit."

Im Mittelteil eines gemalten Triptychons findet sich oft eine Christusdarstellung. Auffallend ist, dass auch Roloff den mittleren Teil seines Buches - märzspaziergang - den Göttern zu widmen scheint. Jedenfalls sind diese Gedichte diejenigen, in denen vieles im Vagen bleibt: "der schein der sonne vertieft das dunkel / weiter ins helle hinaus." Hier treten Demeter, Kirke, Odysseus und Moira auf; aber natürlich geht es nur vordergründig um Religion oder Mythologie. Thema ist vielmehr der menschliche Körper und - keine ganz neue Erkenntnis - dessen Vergänglichkeit. Roloff greift etwa die Tradition der Priapeen, also trivial-erotischer Gedichte auf den Fruchtbarkeitsgott Priapos auf ("hörst du den ruf nicht / des gotts, die arme, der / stumpf & der sack"), um schließlich mit dem Gedicht "ein grab" alles Göttliche aus unseren Körpern zu radieren: außer "papp / machékränzen, plunderkordeln" bleibt nichts.

Formate - so schließlich der Titel des dritten Teils - gibt es im Film, im Druckereiwesen oder auch im Softwarebereich. Ein bestimmtes Papierformat eignet sich für eine bestimmte Art Dokument; ein bestimmtes Dateiformat eignet sich für einen bestimmten elektronischen Inhalt. Es ist deshalb nahe liegend, die dritte Abteilung des Bandes als die zu begreifen, die ein besonderes Augenmerk auf poetologische Fragen legt, die Formate für das vermittelte Gedächtnis also.

Tatsächlich ist die Sprache dort ein "geheul ... ein fluch ein segen", es "knirschen sand & proviant im satz- / getriebe." Und im Gedicht "kein wir" sind die Zeilen zu finden: "alles ist mund / der keinem gehört ... im hoffnungszwielicht / aus nacht & aus / morgen ist kein / satz / der mich / vertritt."

Leider löst sich die in diesen Texten für notwendig erachtete sprachliche Radikalität nicht in allen Gedichten des Bandes gleichermaßen ein. Zuweilen lassen sich eher stimmungsbetonte Töne vernehmen, der Versbau überzeugt nicht durchgängig, und dafür, dass alles "mund [ist] / der keinem gehört", sind die Bezüge zu bestimmten Orten doch zu klar gesetzt, sind Gedichte allzu oft bestimmten Menschen zugedacht.

Dennoch: die großen Worte aus Roloffs 1997 erschienenem Debüt "Herbstkläger" ("versetzte in demut uns / vor den erschrockenen / festen des einsseins") finden sich hier nicht mehr wieder. Die Texte üben ihre Kritik an Sprache und Welt subtiler. Überzeugend ist vor allem der Aufbau des Bandes: die beschriebene Dreiteilung einerseits, andererseits eine zyklische Komposition, in der sich Texte und einzelne Worte aufeinander beziehen. Das erste Gedicht heißt "der winter", das letzte "nicht fortkommender frühling"; und "märz" ist sowohl das erste als auch das letzte Wort des Mittelteils. Diese kreisende Bewegung - der ständige Ortswechsel - bringt ein Gefangen- und Getriebensein zum Ausdruck, aus dem nur für Momente ausgebrochen werden kann; dann nämlich, wenn etwas zu Poesie gerinnt. Deshalb auch das Zitat von Norbert Hummelt, das den Band schließt: "ich schwebe womöglich / für eine sekunde wann falle / ich wieder in den zirkel zurück".


Titelbild

Marcus Roloff: Gedächtnisformate.
Gutleut Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
72 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3936826633

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