Freiheit oder Enteignung der Wissenschaft?

Ein Gespräch über die Open-Access-Bewegung und ihre Kritiker

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz und Gerhard LauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Lauer

Gerhard Lauer ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen, Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, gewählter DFG-Fachgutachter für das Fachkollegium Literaturwissenschaft, Mitglied des DFG-Unterausschusses Elektronische Publikationen, des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Informationsplattform Open Access (openaccess-germany.de) und der europäischen Plattform Open Access Publishing in European Networks (OAPEN). Bis 2007 war er Mitglied des Lenkungsausschusses im Aktionsbündnis "Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft", das am 25. März 2009 dem von Roland Reuß initiierten, von vielen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Verlagen unterzeichneten Aufruf "Für Publikationsfreiheit und die Wahrung der Urheberrechte"mit einer Presseerklärung entgegentrat.

Thomas Anz: Herr Lauer, gab es sachliche Gründe dafür, dass Sie seit 2008 dem Aktionsbündnis "Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft" nicht mehr offiziell angehören?

Gerhard Lauer: Nein, es sei denn, Zeit wäre ein sachlicher Grund.

Thomas Anz: Die deutsche Informationsplattform Open Access, der sie als Beiratsmitglied verbunden sind, verweist auf die Presseerklärung des Urheberrechtsbündnisses. Ich nehme an, Sie sind mit ihr einverstanden.

Gerhard Lauer: Ja, das bin ich. Die Informationsplattform Open Access ist allerdings weder Sprachrohr des Urheberrechtsbündnisses noch das anderer Initiativen, sondern will über die für Nicht-Juristen komplizierte Materie Open Access informieren, übrigens auch für Verlage.

Thomas Anz: Da weisen Sie gleich darauf hin, dass die Open Access-Bewegung nicht als verlagsfeindlich verstanden werden will. In der Öffentlichkeit ist allerdings der Eindruck entstanden, dass es da eine ziemlich harte Konfrontation gibt.

Gerhard Lauer: Es gibt eine harte Konfrontation. Aber die verläuft nicht zwischen den Verlagen und der Open-Access-Bewegung, schon gar nicht zwischen den im weltweiten Maßstab wenig einflussreichen, meist mittelständischen deutschen Verlagen und der auch in Deutschland nicht gerade großen Open-Access-Bewegung. Nicht nur in meinem Kalender stehen viele Termine mit den Verlagen drin. Und genau das ist gewollt.

Thomas Anz: Sie wollen damit sagen, dass zwischen engagierten Anhängern von Open Access und Verlagen gute Beziehungen möglich sind und gesucht werden? Wo sehen Sie denn die "harte Konfrontation", wenn nicht zwischen Verlagen und einer von Forschungsinstitutionen forciert gestützten Open Access-Bewegung? Bei den Unterzeichnern des Heidelberger Aufrufs, den Sie ablehnen und den ich selbst bislang übrigens auch nicht unterschrieben habe, fehlt jedenfalls kaum ein Verlag, der für die Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Bereich wichtig ist.

Gerhard Lauer: Die harte Konfrontation verläuft zwischen den großen Musik- und Videoanbietern und deren Interessen untereinander. Es geht dabei um wirtschaftliche Interessen in einer Größenordnung, in der weder die Geisteswissenschaften noch ihre Verlage und noch nicht einmal die Schulen mit ihrem Bedarf an einer zeitgemäßen Medienbildung auch nur gehört werden. Bei der Novellierung des Urhebergesetzes, dem sogenannten 2. Korb, haben sich diese Interessen der weltweiten Anbieter dann auch weitgehend durchgesetzt. Der Konflikt zwischen YouTube, Google und der GEMA zeigt derzeit an, worum es geht. Wir sollen uns daher nicht überschätzen und schon gar nicht die meist guten, ja sehr guten Kontakte zwischen den Verlagen und den Geisteswissenschaften in Deutschland in einen schief konstruierten Konflikt treiben. Vermutlich ist es nicht nur mein Eindruck, dass die Verlage wie die Wissenschaften nach neuen Vertriebs- und Distributionsmodellen des Internetzeitalters suchen. Die Regelungen, wie sie jetzt etwa für das eBook festgelegt worden sind, die es nicht ermöglichen sollen, die elektronisch gekauften Bücher von einem Rechner auf einen neuen zu übertragen, wiederholen alle Fehler, die schon die Musikindustrie gemacht hat. Dass man Aufsätze im Rahmen des Subito-Lieferservice der Bibliotheken wieder von Hand auf Faxgeräte legt, ist jedenfalls kein ernstzunehmender Weg.

Thomas Anz: Wie verhalten Sie sich selbst als Autor im Umgang mit Ihren Verlagen. Kommt es da zu Konflikten, auch in Ihnen selbst? Werden wir konkret: 2008 haben Sie zwei Bücher im Wallstein Verlag und eines im Klett Verlag veröffentlicht. Beide Verlage gehören zu den Mitunterzeichnern des Heidelberger Aufrufs. Nach Open-Access-Maßstäben müssten Sie zweierlei getan haben oder noch tun: Beiden Verlagen dürften Sie vertraglich nur "einfache Nutzungsrechte" übertragen haben. Die Presseerklärung des Urheberrechtsbündnisses erläutert die positiven Folgen einer solchen Vertragsregelung so: "Das Recht der Autoren an einer freien Selbstpublikation und/oder einer Bereitstellung in einem Open-Access-Repository oder z.B. bei Google bleibt somit erhalten." Weiterhin müssten Sie zum Beispiel Ihren bei Klett erschienenen "Grundkurs Literaturgeschichte" bald in einem dieser "Repositorien" der Universität allen Studenten im Netz frei zugänglich machen. Wollen Sie das? Und dürfen Sie das? Oder müssen Sie das als Universitätsangehöriger inzwischen schon?

Gerhard Lauer: Bei Google finden Sie und ich uns ungefragt. Hier müssen Sie die Verlage fragen, warum das bei Google scholar beziehungsweise books so ist, dass ich im Netz meine Aufsätze und Bücher finde, ohne davon zu erfahren. Einmal mehr sind Unterscheidungen gut, um hier klarer zu sehen. Wenn ich als Privatperson ohne öffentliche Fördergelder ein Buch publiziere, kann niemand etwas verlangen, was nicht zwischen Autor und Verlag vertraglich vereinbart ist. Das ist privatrechtlich unsere Sache. Anders sieht die Sache aus, wenn mit Steuergeldern die Forschung gefördert wird, die dann in Büchern oder Aufsätzen veröffentlich wird. Hier ist es ein Gebot der gesamtgesellschaftlichen Fairness, dass die mit öffentlichen Geldern erarbeiteten Forschungsergebnisse auch der Öffentlichkeit zugänglich sind und nicht noch einmal durch Steuergelder ein zweites Mal gekauft werden müssen - von den Bibliotheken. Gegenwärtig ist die Situation aber eine andere: Forschung wird öffentlich gefördert, die Ergebnisse werden von den Verlagen privat an den Staat wieder zurückverkauft. Was die Forschungsorganisationen für diese und nur diese öffentlich geförderte Forschung verlangen, ist ihr öffentlicher Zugang.

Persönlich mache ich das gegenwärtig so, dass ich die Verlage frage, ob ich einen Aufsatz, aus einem Sammelband beispielsweise, online stellen darf. So habe ich etwa beim mentis Verlag angefragt, ob ich meinen Aufsatz zu den Spiegelneuronen online stellen darf. Nach dem Placet des Verlegers erst habe ich das getan. Also auch hier ist die Linie die, dass man im Gespräch bleibt, abgesehen davon, dass die Geisteswissenschaften und die Verlage, die geisteswissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen, vielfach auch persönlich miteinander verwoben, um nicht zu sagen freundschaftlich verbunden sind. Die geisteswissenschaftliche Publikationslandschaft ist eine ganz andere als die, auf der es wirklich zu harten Konfrontationen kommt. Kurz, es wäre viel in der Diskussion um Open Access gewonnen, wenn zwischen den privaten und den öffentlichen Publikationen unterschieden würde und dann auch noch einmal die Besonderheiten der Geisteswissenschaften und ihrer Verlage gesehen würden.

Thomas Anz: Mit Ihrer Antwort umgehen Sie, wie mir scheint, die wirklich heiklen Punkte. Das Urheberrechtsbündnis jedenfalls nimmt keine derart klare Unterscheidung zwischen privaten und öffentlich geförderten Publikationen vor. Es heißt dort: "Im Urheberrecht sollte daher verankert werden, dass Wissenschaftler, die in öffentlichen Einrichtungen arbeiten, grundsätzlich nur einfache Nutzungsrechte an die kommerziellen Verwerter (Verlage) abtreten dürfen." Da Sie und ich in einer öffentlichen Einrichtung, nämlich in der Universität, arbeiten, dürften wir, wenn diese Vorstellungen urheberrechtlich festgeschrieben würden, in vielen angesehenen Verlagen nicht mehr so "privatrechtlich" im Wissenschaftsbereich publizieren, wie Sie es angesprochen haben. Oder? Und gibt es nicht bereits Universitäten, die ihr wissenschaftliches Personal dazu verpflichten, gedruckte Fachpublikationen auch online kostenlos zur Verfügung zu stellen und mit den Verlagen entsprechende Verträge abzuschließen? Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass zum Beispiel der Klett Verlag einen "Grundkurs Literaturgeschichte" nicht verlegen würde, wenn klar wäre, dass dieser Grundkurs im Netz allen Studierenden frei zugänglich gemacht wird. Und auch bei der Publikation von Forschungsergebnissen, die auf der Basis von öffentlichen Mitteln entstanden sind, müssten Verlage anders kalkulieren, wenn das Gedruckte für den kostenlosen Zugang ins Netz gestellt würde. Der übliche Druckkostenzuschuss, den viele Verlage verlangen, wäre vermutlich noch höher, der bei solchen Büchern ohnehin meist schon sehr hohe Ladenpreis ebenfalls. Wahrscheinlich würde vieles von professionellen Verlagen überhaupt nicht mehr gedruckt werden. Fänden Sie das, im Hinblick auch auf Ihre eigenen Publikationen, bedauerlich?

Gerhard Lauer: Das Urheberrechtsbündnis vertritt hier die weitestgehende Position. Dort ist ein wichtiges Argument, dass Wissen schon in absehbarer Zeit nur dann ein Wissen ist, wenn es elektronisch zugänglich ist. Das ist in vielen Fächern ein selbstverständlich akzeptiertes Argument, in den auf Sammelbände und Monografien ausgerichteten Geisteswissenschaften dagegen noch vielfach fremd. Hier prozessiert Wissen anders und vor allem noch sehr viel langsamer als etwa in der Medizin oder Astronomie. Die Wissenschaftsorganisationen sind da vorsichtiger, auch wenn sie dieses Argument prinzipiell teilen. Was hier versucht wird, sind Transformationshilfen, die es etwa Herausgebern geisteswissenschaftlicher Zeitschriften ermöglichen, gemeinsam mit den Verlagen Geschäftsmodelle zu entwickeln. Diese Geschäftsmodelle betreffen besonders die sogenannte "Moving Wall", also eine Karenzzeit, nach der die Ergebnisse der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht werden sollen. Die variierte von Fach zu Fach zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren.

Natürlich betrifft das die Kalkulation. Das Modell der doppelten beziehungsweise dreifachen öffentlichen Finanzierung, einmal die Forschung selbst, dann ihre Veröffentlichung und dann ihren Ankauf in Bibliotheken muss man argumentativ verteidigen können, wenn mit den virtuellen Wissenswelten andere Ordnungen möglich sind als bisher in den Buchwelten. Diese Argumente fehlen. Daher kommt es darauf an, die verschiedenen Geschäftsmodelle gemeinsam zu entwickeln. So hat gerade das Deutsche Institut für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt zusammen mit dem Hogrefe Verlag eine gemeinsam erarbeitete Lösung für ihr Fach und ihre Publikationen gefunden, die allen Seiten, denen des Verlages und denen der Fächer und der Öffentlichkeit, Rechnung trägt.

Es gibt vor allem in kleineren Ländern wie etwa Norwegen oder Irland solche universitären Richtlinien, die die Kolleginnen und Kollegen verpflichten, alle Publikationen, die letztlich auch für die Bewertung ihrer Forschungsleistung relevant sind, öffentlich zugänglich zu machen. Der Grund ist hier, dass sich gerade diese Länder und die Publikationen in den sogenannten kleinen Sprachen nicht mehr in der Lage sehen, in der internationalen Wissenschaft noch wahrgenommen zu werden, es sei denn im Netz. Im Netz zu sein, bedeutet sichtbar zu sein, sehr viel sichtbarer zu sein. Das Netz ist nicht nur eine andere Bibliothek, es verändert die Wissenslandschaften sehr viel grundsätzlicher, als es gerade Geisteswissenschaftler sich vorstellen können.

Zuletzt ist diese Konfrontation eine, die seit der Entstehung des modernen Urheberrechts die Diskussion bestimmt: Wie findet man einen Ausgleich zwischen den Interessen der Autoren und denen der Öffentlichkeit. Das muss mit jeder technischen wie gesellschaftlichen Änderung neu ausgehandelt werden. Wir stehen inmitten dieser neuen Verhandlungen. Nur spielen die Geisteswissenschaften und ihre Verlage dabei die kleinsten Rollen. Die Entscheidungen fallen woanders.

Thomas Anz: In den Naturwissenschaften? Die haben eine sehr andere Publikationskultur. Da wird fast nur in Zeitschriften veröffentlicht. Und deren jeweiliger Rang ist durch einen "Impact Factor" festgelegt. Die Zeitschriftenverlage haben in den Naturwissenschaften eine sehr viel größere Macht als in den Kulturwissenschaften. Und da gibt es beispielsweise "Geschäftsmodelle", in denen ein Wissenschaftler oder die Institution, in der er arbeitet, bis zu 3000 EUR zahlen muss, damit der Zeitschriftenverlag seinen Aufsatz nach Open-Access-Maßstäben frei zugänglich macht. Wir können kurz darauf eingehen, aber der Anlass für unseren Dialog sind ja die gegenwärtigen Debatten im Bereich der Kulturwissenschaften.

Gerhard Lauer: Wenn überhaupt, dann sind es die Verlage der Natur- und Lebenswissenschaften, die globale Marktteilnehmer sind. Deshalb muss man über sie sprechen und nicht über die Verlage der Geisteswissenschaften. Erst die Preispolitik solcher Konsortien wie Elsevier treibt die Bibliotheken auch in Deutschland in die Enge und zwingt zum Handeln. Bei sich vervielfachenden Preissteigerungsraten können die Bibliotheken, die Universitäten oder Fachhochschulen und damit auch die Wissenschaftsorganisationen gar nicht anders als zu versuchen, die Literaturversorgung auf neuen Wegen aufrecht zu erhalten. Die Abbestellungen vieler Zeitschriften und Buchreihen durch die Bibliotheken sind ja die Folge einer exorbitanten Preispolitik der Verlage für die STM-Fächer [Anmerkung der Redaktion: STM steht für Scientific, Technical, Medical]. Wenn man diese so verteuerten Zeitschriften kaufen muss, weil sie für die Fachdiskussion wesentlich sind, geht das nur, wenn sie andere, als nicht so wichtig eingeschätzte Zeitschriften und Reihen abbestellen. Diese Spirale hat eine Abwärtsbewegung ausgelöst, die die Literaturversorgung insgesamt in Frage gestellt hat. Das ist der Grund, warum es diese Diskussion überhaupt gibt. Selbst vergleichsweise gut ausgestattete Institutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft konnten die so unverhältnismäßig verteuerte Literatur nicht mehr kaufen und sind deshalb in harte Verhandlungen mit den für ihre Institute wesentlichen Verlagen eingetreten. Das sind Interessensgegensätze, wie wir sie in den Kulturwissenschaften nicht kennen. Hier in den Geisteswissenschaften gibt es keine Shareholder-Value-Verlage. Die Diskussion um geisteswissenschaftliche Verlage ist also nur eine Folge einer ihr vorausliegenden Konfrontation. Diesen Punkt muss man zunächst festhalten, sonst wird die ganze Urheberrechtsdiskussion in den Kulturwissenschaften schief.

Leider stellt der "Appell für Publikationsfreiheit" die Zusammenhänge, wenn auch in bester Absicht, auf den Kopf. Hier scheint es so, als hätten sich die Wissenschaftsorganisationen etwas ausgedacht, um die Wissenschaftler zu enteignen. Nein, die Wissenschaftsorganisationen, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen sind die Getriebenen, nicht die Treiber. Sie reagieren auf die massive Gefährdung der Wissenschaften und Bildung durch ökonomische Interessen, die Wissenschaft und Bildung und letztlich auch die Steuerzahlen nur als Melkkühe für die Shareholder-Value-Interessen betrachten. Das soll es ja geben, hört man derzeit wiederholt auch andernorts. Und noch einmal: Mit den geisteswissenschaftlichen Verlagen hat das nichts zu tun. Auch sie sind Getriebene wie wir. Der "Appell" treibt einen Keil dort rein, wo diese Gegensätze so nicht bestehen und betreibt damit, wenn auch unfreiwillig, das Geschäft ganz anderer Interessen.

Thomas Anz: Der Aufruf "für Publikationsfreiheit" wäre also demnach, ohne es zu wollen, auch ein Aufruf, die Freiheit einiger mächtiger und profitabler Wissenschaftsverlage zu unterstützen, auf Kosten der Steuerzahler und der wissenschaftlichen Arbeit ihre Gewinne beziehungsweise die ihrer Aktionäre zu maximieren. Mein Eindruck ist allerdings, dass das Urheberrechtsbündnis und die Allianz der Forschungsorganisationen dazu beigetragen haben, einen Keil zwischen die Open-Access-Bewegung und kulturwissenschaftlichen Verlagen zu treiben, insofern sie die Unterschiede zwischen den Publikationskulturen im Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen kaum ansprechen. Einer der mittelständischen Verleger, Vittorio E. Klostermann, hat die von Ihnen skizzierten Probleme schon seit etlichen Jahren mehrfach differenziert aufgezeigt (zum Beispiel in IASLonline und in "zeitblicke"). Es muss doch auch Ihnen zu denken geben, dass er den Heidelberger Aufruf ebenfalls unterzeichnet hat. Was läuft da falsch? Ich vermute, dass der Dialog zwischen Forschungsorganisationen, Urheberrechtsbündnis und Open-Access-Plattform auf der einen Seite und kulturwissenschaftlichen Verlagen auf der anderen bisher nicht gut funktionierte, wenn es überhaupt einen gab. Die betreffenden Webseiten bieten übrigens noch nicht einmal technisch die Möglichkeit dazu an. Der autoritative Sprachgestus, mit dem die Allianz der Forschungsorganisationen ihre kürzlich veröffentlichte Stellungnahme zu dem Heidelberger Aufruf verfasste, lädt auch nicht eben zu einem Dialog ein. Gab es jenseits informeller Gespräche und des öffentlichen Austausches von Stellungnahmen bislang überhaupt Ansätze zu einer Institutionalisierung eines solchen Dialogs?

Gerhard Lauer: Ja, solche Gespräche gab es wie etwa das zwischen dem Börsenverein, einzelnen geisteswissenschaftlichen Verlegern und Vertretern der Wissenschaften und Bibliotheken kürzlich in Frankfurt. Herr Klostermann war auch dabei und seine Gegenwart war hier wie schon früher ein Gewinn. Keine Frage, dass es mehr solcher Diskussionen geben sollte, auch dass der Ton oft nicht stimmt und Differenzierungen immer wieder fehlen. Dass sie fehlen, mag man der Überforderung durch einen nicht eben undramatischen Modernisierungsprozess der Verlage und der Wissenschaften zuschreiben, in der es uns allen nur zu selten überzeugend gelingt, die Umbauten unserer Arbeitswelt zu überblicken und gescheite Argumente zu formulieren. Der Misserfolg der Medientheorie, die geglaubt hat, mit der Exegese von ein paar Aufsätzen Walter Benjamins und der Wiederholung einiger ungedeckter Thesen Michel Foucaults schon etwas Tragfähiges zu den gegenwärtigen medialen Transformationen zu sagen, hat etwa auf der Seite der Geisteswissenschaften dazu beigetragen, dass ihr zu ihren eigenen realen Arbeitsumwelten nicht viel einfällt. Die Verlage haben zu lange darauf gesetzt, die bestehenden Publikationswege als die allein sinnvollen zu verteidigen. Die Wissenschaftsorganisationen neigen dazu, die Unterschiede der Fächerkulturen einzuebnen. Wir alle werden dabei von Google und Co. überholt. Andere Prozesse wie die weltweite Konkurrenz der Wissenschaftsstandorte oder die Metrisierung der Wissenschaften beschleunigen diesen Prozess. Wir stehen hier am Anfang einer Entwicklung, die keiner von uns überblicken kann.

Konkret heißt das, dass mehr von uns sich Gedanken machen sollten, welche Arbeitsumwelten wir für die Geisteswissenschaften zukünftig haben wollen. Es sind derzeit zu wenige auf allen Seiten, die sich jenseits von Aufrufen um die Arbeit in der Ebene kümmern. Die Wissenschaftsförderer wie die DFG haben schon begonnen, Programme aufzulegen, die die Transformation auch von geisteswissenschaftlichen Zeitschriften in digitale Welten ermöglichen sollen. Und Herausgeber ganz unterschiedlicher Zeitschriften haben mit ihren Verlagen im Rahmen dieses Programms Modelle ausbuchstabiert, wie das gehen kann, so etwa die Herausgeber des "Athenäums" zusammen mit dem Schöningh Verlag. Alle blicken dabei auf die Geschäftsmodelle. Fast genauso wichtig ist die nachhaltige Verfügbarkeit, so dass die Publikationen auch noch nach Jahrzehnten zuverlässig zu konsultieren sind. Wie hier Wissenschaften, Verlage und Bibliotheken zusammenarbeiten können, wie vom Internetauftritt einer Zeitschrift, über Repositorien bis hin zur Langzeitarchivierung alles stabil ineinander greift, ist doch ein paar gescheite Gedanken wert. Es gibt also Programme, sprich Geld für diesen Umbau, es gibt erste, vernünftige Lösungen. Ich würde mich freuen, wenn es mehr werden würden. Wir haben allen Grund, wie ein vergleichender Blick etwa auf die Situation in den USA zeigt, die besondere geisteswissenschaftliche Kultur in Deutschland nicht zu verspielen.

Thomas Anz: Die Motive, den Heidelberger Aufruf zu unterzeichnen, sind ja wohl sehr unterschiedlich geartet. Da findet sich gewiss auch der Typus des Kollegen, dem es immer noch lieber zu sein scheint, zur mehr oder weniger flüchtigen Lektüre eines Aufsatzes in die Bibliothek zu gehen, den Aufsatz zu suchen, zu kopieren, zitierenswerte Passagen abzuschreiben und den Aufsatz schließlich in einem Aktenordner abzulegen oder das alles von Hilfskräften besorgen zu lassen - statt sich den Aufsatz auf den Bildschirm zu holen, ihn bei Bedarf auszudrucken, in einem virtuellen Ordner abzuspeichern, Zitierenswertes in eine gesonderte Datei zu kopieren und die ersparte Zeit zugunsten intellektuell sinn- und anspruchsvollerer Tätigkeiten zu verwenden. Oder man stößt auf den Typus des Verlegers, der von den Druckkostenzuschüssen seiner Autoren oder forschungsfördernder Institutionen und von den Bibliotheksetats lebt, sich den Herausforderungen des digitalen Publizierens verweigert und nun um seine Existenzgrundlagen bangt. Oder es gibt den Typus, der - wie wir alle wohl inzwischen - den durch Google geschaffenen Möglichkeiten des kostenlosen Recherchierens in oft schwer zugänglichen Publikationen anderer täglich sehr viel verdankt, doch empört ist, wenn Google seine eigenen Publikationen für andere kostenlos durchsuchbar macht.

Gerhard Lauer: Weil wir alle aus unterschiedlichen Milieus kommen und kaum weniger unterschiedliche Erwartungen an unser Tun haben, treffen uns die Modernisierungen auch unterschiedlich. Entsprechend sind die einen mehr verärgert, die anderen wütend, andere wieder geradezu enthusiastisch, was die neuen Möglichkeiten betrifft. Die Etablierung des Buchdrucks oder des Telefons haben ähnliche unterschiedliche Reaktionen ausgelöst - und doch nutzen längst fast alle Google.

Thomas Anz: Gegen das Unternehmen Google, das vor kaum mehr als zehn Jahren als akademische Suchmaschine in das weltweite Netz gegangen ist, lässt sich inzwischen sicher einiges einwenden. Aber die Verdienste von Google, gerade auch für die Wissenschaften, sind unübersehbar. Google ist technisch so überlegen, dass Verlage, Bibliotheken und Autoren sich schaden, wenn sie an den von Google angebotenen Möglichkeiten nicht partizipieren. Das Bemühen um Kooperation erscheint mir da jedenfalls angemessener als die Konfrontation. Der Verlag C.H. Beck etwa kooperiert inzwischen mit Google. Man kann viele Bücher des Verlages bei Google Books - wie in einer Buchhandlung - zu weiten Teilen lesen. Zugleich präsentiert Google einen Link zur Verlagsseite und zu Buchhandlungen, wo Interessenten das Buch bestellen. Nach ersten Erfahrungen scheint sich das für den Verlag zu lohnen. Dass der Verleger Wolfgang Beck den Heidelberger Aufruf unterzeichnet hat, richtet sich anscheinend mehr gegen Open Access als gegen Google. Oder es gibt da eine Gespaltenheit, die für viele zur Zeit typisch ist, übrigens auch für mich.

Gerhard Lauer: Gegen Open Access zu sein, aber zugleich weite Teile des Verlagsprogramms weitgehend frei im Internet zugänglich zu machen, zeigt die Gespaltenheit auch der Verlage an. Logisch ist es nicht. Denn ein Geschäftsmodell bzw. eine Komponente des Geschäftsmodells im Bereich Open Access ist es ja gerade, dass dadurch Bücher und Zeitschriften sehr viel sichtbarer und dadurch auch gekauft werden. Es gibt da nicht das eine Modell, aber Lösungen, die man nicht von vorneherein verurteilen kann, schon weil bei näherem Hinsehen auch der Appell mehr ein symbolischer ist, das Handeln der Akteure längst ein anderes ist.

Thomas Anz: Es gibt gewiss viele Unterzeichner, die gute, intersubjektiv nachvollziehbare Gründe gegen die derzeitigen Lösungsmodelle zur Entlastung von Wissenschaftlern und Bibliotheken sowie gegen die Praktiken von Google haben. Versuchen wir abschließend die Probleme etwas zu konkretisieren, damit die Argumente beider Seiten vielleicht etwas klarer werden.

Sie haben vorhin das Modell der dreifachen öffentlichen Finanzierung angesprochen. Ein Forschungsprojekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft über drei Jahre hinweg mit insgesamt 250.000 EUR gefördert. Der weitaus größte Teil davon ist für Personalkosten vorgesehen. Damit die Ergebnisse des Projektes veröffentlicht werden können, stellt die DFG zusätzlich eine Publikationsbeihilfe von circa 2250 EUR zur Verfügung. Der Verlag verlangt diesen Betrag und meist noch einige tausend Euro darüber hinaus als Druckkostenzuschuss und rechnet bei seiner Kalkulation damit, dass etwa 200 Exemplare des gedruckten Buch von wissenschaftlichen Bibliotheken, also indirekt wiederum mit Hilfe von Steuergeldern, gekauft werden. Da die Auflage klein ist, hat das Buch einen hohen Ladenpreis von 120 EUR. Der Staat finanziert die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse also noch einmal mit einem Betrag von annähernd 24.000 EUR.

Für viele Wissenschaftsverlage ist die derartige Finanzierung durch Steuergelder die Existenzgrundlage. Einige leben davon mehr schlecht als recht, wenige sehr gut. Und manche betreiben, Sie haben darauf hingewiesen, bei der Kalkulation und beim Verkauf ihrer Bücher und Zeitschriften eine geradezu erpresserische Preispolitik, die für die chronisch unterfinanzierten Bibliotheken ruinös ist und die wissenschaftliche Kommunikation eher behindert als ermöglicht. Das wissenschaftliche Verlagswesen ist jedenfalls zu weiten Teilen staatlich subventioniert und belastet den öffentlichen Haushalt in einem Ausmaß, das vielen nicht mehr akzeptabel erscheint.

Gerhard Lauer: Darf ich hier unterbrechen? Ich kenne keinen deutschen geisteswissenschaftlichen Verlag, der eine erpresserische Preispolitik betreiben würde. Ich glaube, wir sind uns einig, dass es hier um kleine Margen geht und selbst diese dreifache Finanzierung nicht den Open Access-Gedanken antreibt und auch die deutschen Forschungsorganisationen zum Handeln anleitet. Das geht von ganz anderen Spielern im Markt aus.

Thomas Anz: So ganz einig bin ich da nicht mit Ihnen. Die Preispolitik auch mancher deutscher Wissenschaftsverlage erscheint mir doch gelegentlich fragwürdig. Ich habe das vor acht Jahren in literaturkritik.de (7/2001) einmal an einem von Ihnen mit herausgegebenen Buch kritisiert, das damals 276 DM kostete, und für einen Boykott plädiert. Ich hoffe, Sie haben mir das verziehen, zumal die Rezension ja ansonsten sehr positiv war. - Open Access erscheint jedenfalls heute vielen einen Ausweg aus der Bibliotheksmisere zu bieten und zugleich die Realisierung einer schönen Vision zu sein: Wissenschaftler und Studenten haben an ihren Arbeitsplätzen schnellen und kostenlosen Zugang zu Aufsätzen und Büchern, die sie früher, unter heute einfach nicht mehr akzeptablen Bedingungen, relativ aufwendig suchen, in ihrer Bibliothek ausleihen, oft über Fernleihe bestellen oder auf die sie oft tage- oder wochenlang warten mussten, weil sie von anderen ausgeliehen waren. Andererseits ist das Schreiben, das Herstellen und Verbreiten von Büchern sowie deren digitale Bereitstellung mit erheblichen Mühen und Kosten verbunden. Die beiden entscheidenden Fragen sind doch wohl:

1. Wer bezahlt das? Wer bezahlt, um bei unserem Beispiel zu bleiben, die rund 24.000 EUR? Letztlich die Leser? Oder der Staat, also seine steuerpflichtigen Bürger? Oder, das wäre das dominante, anzeigenbasierte Geschäftsmodell von Google, diverse Unternehmen mit ihren Webeetats?

2. Wer macht das am besten? Wer besorgt die Herstellung und die Verbreitung von Büchern oder Aufsätzen in höherer Qualität und kostengünstiger? Der Buchhandel oder Universitäten und ihre Mitarbeiter?

Gerhard Lauer: Universitäten haben meist anderes zu tun als Bücher zu machen und zu verbreiten. Daher sind erfolgreiche Open Access-Zeitschriften wie das New Journal of Physics oder auch Universitätsverlage in Deutschland die Ausnahme und reagieren auf Mängel anderenorts. Also auf die letzte Frage ist zu antworten, dass das Verlage und Buchhandlungen tun sollen, nur halt nicht einfach in der Fortsetzung der Verlags- und Vertriebswege des vergangenen Jahrhunderts. Google, eBook etc. zeigen, dass längst alles in Bewegung geraten ist.

Auch beim Zahlen gibt es mehrere und nicht das eine Modell. Zeitschriftenabonnements und Open Access schließen sich ja nicht aus. Was sicherlich immer weniger zu halten sein dürfte, ist die mehrfache Subvention durch die Forschungsorganisationen, nicht wegen der geisteswissenschaftlichen Verlage, sondern wegen der großen Spieler im Markt, die nicht nur ihre Zeitschriften subventioniert verkaufen, sondern auch jeden Artikel elektronisch noch einmal, ohne den Gewinn mit den Autoren zu teilen. Kein Zufall, dass sie deren Artikel, Bücher und Zeitschriften nicht bei Google finden.

Thomas Anz: Ich tendiere zu der nicht ganz Open-Access-konformen Antwort, dass auch Leser wissenschaftlicher Publikationen zumindest für einen Teil der Kosten aufkommen sollten (durch Abonnements oder niedrig gehaltene Gebühren für den Zugang zu einzelnen Publikationen) und dass Verlage die Herstellung und Verbreitung von Publikationen professioneller und kostenbewusster beherrschen als Universitäten.

Dass die deutsche Open-Access-Plattform Verlagen gut gemeinteRatschläge für Open-Access-kompatible Geschäfts- beziehungsweise Finanzierungsmodelle gibt, finde ich in Ordnung, auch wenn die Ratschläge oft etwas blauäugig wirken und etablierte Verlage kaum überzeugen dürften. Fatal hingegen sind Versuche, die Forschungsförderung mit Auflagen über die Art der Publikation zu verbinden, Open Access mit Änderungen des Urheberrechts durchsetzen zu wollen oder gar, wie eben erst an der TU Darmstadt geschehen, die Verlage ungefragt mit digitalen Kopien ihrer Lehrbüchern zu brüskieren, die den Studierenden kostenlos zum Download angeboten werden. Das alles verhindert den notwendigen Dialog und den zwanglosen Abgleich divergierender Interessen.

Gerhard Lauer: Es mag solche wenig glücklichen Ideen geben. Aber das hat kaum etwas mit Open Access und Creative Commons zu tun, weil hier weder Autoren noch Verlage gefragt zu sein scheinen. Notwendig dagegen hat Open Access etwas mit Urheberrecht zu tunt, eben weil das Urheberrecht der Ort ist, an dem die drei Interessen - die der Autoren, die der Verwerter und die der Öffentlichkeit - austariert werden müssen. Wir stehen bestenfalls am Anfang des Umbaus durch die neuen Wissensnetze. Was Cloud Computing, Grid Computing, eBook und vieles mehr für unsere Lese- und Arbeitswelten bedeuten, weiß keiner genau zu sagen. Nur dass die Welt auch der geisteswissenschaftlichen Bücher und Zeitschriften schon in fünf Jahren eine sehr andere sein wird, das ist sicher.

Anmerkung der Redaktion: Ein weiteres Gespräch über das Thema mit dem Juristen Albrecht Götz von Olenhusen finden Sie hier. - Thomas Anz und Gerhard Lauer laden dazu ein, den Dialog fortzusetzen, und beteiligen sich daran weiter, wenn Sie uns Einwände, Fragen oder zusätzliche Gesichtspunkte in Form eines Leserbriefs schicken. Klicken Sie dazu rechts unten auf dieser Seite auf "Leserbrief schreiben".